Wirklichkeit, oder besser: Wirklichkeiten stehen im Zentrum zweier Ausstellungen zweier DruckgraphikerInnen: „Tell me what you want“, der Präsentation von Darina Peeva und Michael Wegerer in der Hausgalerie des Wiener Künstlerhauses, und der schlicht „Hologramme“ betitelten Ausstellung von Darina Peeva im Renner-Institut in Wien. Überlegungen zu Realismus, Druckgraphik und Medien von Philipp Maurer
Wirklichkeit, gesellschaftliche, politische, soziale, mediale Wirklichkeiten treten seit Beginn des neuen Jahrtausends mehr und mehr ins Interesse der Kunstschaffenden. Für Darina Peeva und Michael Wegerer allerdings, die beide Druckgraphik studiert haben – sie in Sofia, er in Wien – war die Beschäftigung mit der Realität schon immer selbstverständlich, denn die vervielfältigten und verbreiteten Bilder der Druckgraphik provozieren dank ihrer eigenen Charakteristika diese Haltung. Man kann auch so sagen: KünstlerInnen, die sich nicht nur den formalen Experimenten hingeben wollen, sondern darauf abzielen, Botschaften über die Welt in die Welt zu senden, verlegen sich auf Druckgraphik.
Die aktuellen Ausstellungen Peevas und Wegerers bebildern nicht bestimmte Aspekte oder Themen der Realität, sondern fragen nach der Art und Weise, wie Realität im Bild, im Abbild dargestellt werden kann. Es geht also um die Frage, die man eigentlich vor jedem realistischen Bild, oder zumindest einem Bild, das vorgibt, Realität abzubilden, zu stellen hat: ist es Fiktion oder gestaltete Wiedergabe der Realität?
Neben ihrem Interesse an Realität und Medientheorie haben die beiden KünstlerInnen noch vieles gemeinsam: sie reisen beide gerne und viel, nehmen an internationalen Workshops teil und bewerben sich erfolgreich um Artist-in-Residence-Stipendien, arbeiten viel in Gruppen bzw. Teams, schätzen die Zusammenarbeit mit professionellen Druckern in Druckstudios, leben also eine künstlerische Grundhaltung, die in der Druckgraphik und ihrer Geschichte der handwerklichen und ästhetischen Zusammenarbeit einzelner spezialisierter Meister tief verwurzelt ist, nämlich dem kooperativen Arbeiten, für das heute gerne das Wort Kollaboration aus dem Englischen übernommen wird – wegen seines zumindest im Deutschen unangenehmen Beigeschmacks wird nun von Kreativen schon das Wort Kollabo verwendet, das gleich viel angenehmer klingt! Aus der gemeinsamen Diskussion, aus der Zusammenarbeit im Atelier, im Druckstudio entstehen neue Ansätze für neue Bilder und Objekte, entwickeln beide KünstlerInnen ihre Kunst weiter.
Die beiden Ausstellungen im Renner-Institut und im Künstlerhaus bieten nun zwei Gelegenheiten, die neuesten Arbeiten von Darina Peeva und Michael Wegerer, in denen sie die mediale Wirklichkeit reflektieren, zu studieren und dabei selbst über die mediale Wirklichkeit und wie wir sie selbst wahrnehmen, nachzudenken.
Darina Peevas Bilderwelten
Die bulgarische Künstlerin Darina Peeva ist, nachdem sie schon in Bulgarien mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden war, seit mehr als 15 Jahren in Österreich regelmäßig präsent. Schon ihre frühen Arbeiten zeichnen sich durch gesellschaftspolitisch relevante Themen aus, die Darina Peeva in handwerklich hervorragend gedruckten und ästhetisch extravaganten Blättern vorgetragen hat.
Thematisch deckt Darina Peeva ein relativ weites Feld ab. Ich nenne hier nur einige Schwerpunkte, die in Wiener Ausstellungen zu sehen waren: Großformatige Offset-Lithographien zur Gentechnik waren in der Triennale in Kraków 2009, wo sie mit einem Preis ausgezeichnet wurden1, und der darauf folgenden Wiener Präsentation „multiple matters“2 im Wiener Künstlerhaus zu sehen, technisch aufwändige Radierungen und Lithographien zu Familienthemen präsentierte Peeva 2010 in der Passagegalerie im Wiener Künstlerhaus, kleinformatige und zartfarbige, fast unauffällig daherkommende, aber sehr intensiv wirkende Radierungen zu Kriegsspielzeug für Kinder waren in mehreren Ausstellungen in Wien zu sehen, darunter in der KroArt und Manfred Fleners myart-Galerie.
In der Serie der „Unnatural desasters“ aus dem Jahr 2012 stellte Darina Peeva Tiere als Symbole von Unschuld und Hilflosigkeit in gefährliche, kriegerische Situationen, um auf die von Jahr zu Jahr mehr werdenden „unnatürlichen“, nämlich von PolitkerInnen und MachthaberInnen ausgelösten Katastrophen zu verweisen. In der letzten Wiener Triennale in.print.out 2013 zeigte Darina Peeva die Serie „Impossible connections“, in der sie Radierung mit Lithographie verbindet.3
2013 stellte Peeva ihre PhotoGraphiken über Bojen und andere Grenzmarkierungen gemeinsam mit Collagen von Georg Lebzelter im Kunstraum Arcade, Mödling, aus4. Impulse zur Weiterentwicklung ihrer Kunst gewinnt sie auch aus längeren Aufenthalten in Druckgraphikzentren von New York über Finnland und Belgien bis zur Kulturwerkstätte Uferstöckl in Wallsee an der Donau, wo sie mit dem dortigen Drucker Rudi Hörschläger eine höchst eigenwillige Methode des händischen Offsetdrucks entwickelt hat.
Für ihre ästhetische Grundhaltung sehr charakteristisch ist die Arbeit, die Darina Peeva als „Meditativen Makak“5, die Original-Druckgraphik für Offsetdruck im Um:Druck, schuf: die Arbeit trug den Titel „political & poetical“.
Hologramme im Renner-Institut
Nun präsentiert Darina Peeva ihre neuesten Lithographien „Hologramme“, die sie für das Renner-Institut geschaffen hat. Dabei geht es um die verschiedenen Sichtweisen auf die Welt, um optische Täuschungen, Lichteffekte und die Möglichkeiten, Bilder mittels Computerprogrammen zu manipulieren. Die eigens für das Renner-Institut konzipierte Serie bebildert anschaulich und in zeitgemäßer Technik McLuhans These: „The medium is the message“.
Die Holographie, die heute zu unterschiedlichen Zwecken verwendet wird, ermöglicht die Abbildung von Objekten in dreidimensionalen, also räumlichen Strukturen. Die holographische Aufnahme mit Laserlicht erzeugt gleichzeitig ein reelles und ein virtuelles Bild, verdoppelt also bereits in seiner Entstehung die Wirklichkeit! Den BetrachterInnen erscheinen je nach ihren Betrachterstandpunkten unterschiedliche Bilder. Am bekanntesten sind die Hologramme als Sicherheitszeichen auf Geldscheinen oder in Pässen: Das Hologramm garantiert mittels Vorspiegelung mehrerer Wirklichkeiten die Einmaligkeit und Echtheit eines Dokumentes – ein nicht unwitziges Phänomen! Da verwundert es nicht, dass Hologramme als optische Schmuckgegenstände auch viel zur Unterhaltung beitragen.
Druckgraphik schafft Wirklichkeit
Hologramme, die seit den 1960er Jahren auch als künstlerisches Ausdrucksmittel verwendet werden, setzen die Diskussion über die medialen Fragen nach Abbild und Wirklichkeit in der Druckgraphik mit zeitgenössischen Mitteln fort. Seit ihrer Entstehung bildet Druckgraphik Wirklichkeit ab und schafft sie dadurch neu. Die Entdeckung neuer Erdteile, fremder Tiere und Pflanzen im 15. und 16. Jahrhundert, die Erforschung pharmazeutisch nutzbarer Pflanzen, die Darstellung von Jagderfolgen schufen Bilder, die für das allgemeine Verständnis der Wirklichkeit prägend waren.
Die Darstellung und Interpretation von Wirklichkeit war eines der beiden vorrangigen Ziele der Druckgraphik, das zweite war die Herstellung virtueller Welten und deren Vermittlung. Die Heilsbotschaften und Heilsversprechungen in den Christophorus-Holzschnitten, den Kreuzigungen und Pietas des frühen 15. Jahrhunderts, der Apokalypsen gegen Ende des 15. Jahrhunderts und all der Allegoriendarstellungen während der Reformationszeit sind Bebilderungen von Ideen, Argumenten, Vorstellungen, Wünschen und Ängsten. Es ging darum, mit den Gefährdungen in der realen Welt fertig zu werden und sich im täglichen Leben besser behaupten zu können. Und letztlich ging es um nichts weniger als das Ewige Leben. In der Reformationszeit eroberte sich die Druckgraphik die politische Welt, als die Glaubensfrage zu einer Frage der politischen Herrschaft geworden war.
Diese Tradition der Druckgraphik, sowohl reale als auch virtuelle, nämlich geistige, ideelle, geträumte Wirklichkeit abzubilden, führt Darina Peeva fort: Ein seltsamer Lichtstrahl bricht aus einem Spiegel hervor, über dem Geschirr auf einer Kredenz schweben Quallen, ein Reh steht im Interieur, so wie in Dürers Kupferstich der Löwe zu Füßen des Hieronymus liegt. Tiere brechen als Unruhestifter, als Naturkatastrophen von außen in die von Menschen liebevoll gestalteten Innenräume ein, bringen Chaos – und stehen dann aber doch völlig verloren, hilflos und schutzsuchend herum. Es ist in Poesie übertragene Alltagserfahrung. Damit neutralisiert Peeva Katastrophen und Fast-Katastrophen in einer fiktiven, traumhaften Welt freundlicher, nahezu heiterer Bilder. Realität versus Fiktion: die Dinge sind nicht eindeutig umrissen, sondern setzen sich aus den nebeneinander liegenden Schichten der Hologramme zusammen, erscheinen daher vibrierend, unruhig, wechselhaft.
Die Löcher in den Arbeiten scheinen nicht nur den Durchblick in neue Welten zu ermöglichen, sondern auch den Durchlass zu Unbekanntem, das hinter dem Bild liegt. Ebenso scheinen sie Einlasslöcher für Ungeahntes zu sein.
Peevas CPEKULATION
Im Künstlerhaus zeigt Darina Peeva die kreisrunde Installation CPEKULATION. Statt des S im Wort setzt Darina Peeva ein C. Was wie ein zeitgeistiger Kalauer aussieht, ist in Wirklichkeit die Verbindung zweier Schrift-Welten. Dass C ist im kyrillischen Alphabet ein stimmloses S. Peeva vereint schlicht und einfach die beiden Schriftwelten in einem einzigen Schriftbild und spekuliert dabei mit unseren eintrainierten Sehgewohnheiten, die sich an solche Grenzüberschreitungen und Vermischungen durchaus gewöhnt haben. Das Plädoyer, die Dinge aus mehreren Blickpunkten zu betrachten, wird zugleich zum Hinweis auf schlampiges Wahrnehmen der abgebildeten Wirklichkeit. Hier haben auch die realen Spiegel, die Peeva in ihrem Objekt einsetzt, sowie die Spiegelungen, die in ihren Arbeiten zu sehen sind, ihre Funktion als Vermittler ebenso wie als Verfälscher von Erkenntnissen.
Michael Wegerers Papierwelten
Über die Wahrnehmung von Wirklichkeit arbeitet Michael Wegerer seit vielen Jahren. Gerne erinnern wir uns an sein während der Triennale „print“ 2007 ausgestelltes Objekt „Leiter“, das dem reproduzierten Original so zum Verwechseln ähnlich sah, dass BesucherInnen versuchten, sich daran anzulehnen6. Weitere Höhepunkte der papierenen Realitätsvortäuschung waren in der Diplomarbeit Wegerers aus dem Jahr 2008 ein wunderbar verkratzter und bekritzelter alter Schreibtisch samt zugehörigem Sessel. In der Triennale „multiple matters“ 2010 war es die Reproduktion einer Bushaltestelle aus der Wüste Australiens, die Aufsehen erregte. Alle Gegenstände wurden von Wegerer im Hochdruckverfahren in Originalgröße auf Papier abgedruckt und die bedruckten Papiere anschließend zum Objekt zusammengebaut. „Die Gegenstände spielen ein Spiel mit Wirklichkeit, Vorstellungen, Ideen und Illusionen: täuschend echte Kopien entstanden, dem Original zum Verwechseln ähnlich, und doch, durch das andere Material, etwas anderes, nämlich eine dreidimensionale Druckgraphik“, schrieb ich 2008 über Wegerers Diplomarbeit.7
Nach seiner Diplomarbeit an der Universität für angewandte Kunst hat Michael Wegerer am Royal College of Art studiert und mit Diplom abgeschlossen. Im Laufe dieses Studiums erkannte Wegerer nach der Lektüre des Aufsatzes von Walter Benjamin „Die Aufgabe des Übersetzers“, wie wichtig der Begriff der Übersetzung für die Produktion von Kunst ist8. Das Kunstwerk, schrieb Benjamin, wobei er das sprachliche Kunstwerk meinte, eine Übertragung auf die bildende Kunst jedoch schon mitgedacht hatte, sei eine Übersetzung von Realität in eine andere Sprache, wobei der intellektuelle, sinnliche, emotionale Gehalt des Originals mitübersetzt werden müsse.9 Aus heutiger Medienerfahrung ist festzustellen: ein Ereignis, das nicht in ein Medium, das es verständlich und weithin wahrnehmbar in alle Welt verbreitet, übersetzt wurde, hat eigentlich gar nicht stattgefunden. Wolfgang Ulrich bringt es auf den Punkt: „Was nicht reproduziert wird, existiert nicht“10. Erst durch seine Reproduktion in feinstem Japanpapier erhält der hübsche Kasten Wegerers seine mediengerechte Realität, in der er dann nicht wie gewohnt, sondern auf die Seite gekippt präsentiert wird.
Mit der Übersetzung in grafische Zeichen beschäftigt sich Wegerer sehr intensiv. Er überträgt Statistiken ebenso wie Töne in Druckgraphiken: Mit Hilfe eines Computerprogrammes übersetzt er Zahlen und Daten in grafische Zeichen wie Striche, Dreiecke, Rechtecke, die er als Siebdruck druckt. Mit einer solchen Arbeit beteiligte er sich an der vom britischen Kunstkritiker und Theoretiker der Druckgraphik Richard Noyce verlegten Mappe „Critical Mass“ (2011). In der Ausstellung „Zeit(lose) Zeichen“ 2012 im Wiener Künstlerhaus11, die nun im Austrian Cultural Forum in London gezeigt wird, beteiligte sich Wegerer mit den „Glücklichen Uhren“, die Statistiken über Kreativität, Bildungsstand und subjektiv empfundene Zufriedenheit der Menschen in 52 Ländern in Form einer analogen Uhr visualisierten. Danach entstanden in Kooperation mit der Musikerin Juun Siebdruckserien nach Tönen, die aus einem zerstörten Klavier gewonnen wurden12 und mit denen er an der Grafiktriennale in.print.out 2013 im Wiener Künstlerhaus teilnahm13.
Wegerer in Licht und Literatur
Nach der quasi analogen Reproduktion von Gegenständen befasst sich Wegerer auch mit der digitalen Reproduktion, die in erster Linie mit Hilfe des Lichtes geschieht: mit dem Licht, das der Scanner auf das zu reproduzierende Blatt strahlt und dessen reflektierte Strahlen er digital abspeichert. Was passiert, fragt Wegerer, wenn man das zu scannende Objekt bewegt, und was passiert, wenn es selbst Licht ist, eine Neonröhre zum Beispiel? Oder gar die Sonne selbst? In Schweden, wo die Sonne um die Sommersonnenwende herum fast nicht untergeht, zeigte er seine Experimente mit dem gescannten Sonnenlicht.
Auch Schriftliches scannt Wegerer. Schrift ist Bild; Schrift erscheint als Zeichen, das präzise Informationen gibt. Was aber geschieht, wenn man Schrift abschreibt, kopiert, scannt? Dass beim Abschreiben von der Antike bis heute Fehler passiert sind und weiterhin passieren, ist allgemein bekannt. Was aber passiert beim digitalen Scannen, bei dem man Fehlerlosigkeit vermutet? Wegerer scannt für die aktuelle Ausstellung ein als konkrete Poesie visuell gestaltetes Gedicht von Stéphane Mallarmé ein, wobei er während des Scannens die Buchseite bewegt: es entsteht ein verwackeltes, verzerrtes, verschwommenes Bild der Schrift, bereits ein „Kunstwerk“. Dieses Werk rollt er auf einen Stab auf, den er auf die Wand des Ausstellungsraumes abdruckt und die Abdrucke mit Bleistift nachzeichnet. Die Übertragung von Information wird zur körperlichen Schwerarbeit, wodurch die Möglichkeiten heutiger Datenübertragungen zur Diskussion gestellt werden.
Dass auch beim Fotokopieren und Scannen Fehler quasi vom Hersteller eingebaut sind, ist weniger bekannt. „Traue keinem Scan, den du nicht selbst gefälscht hast“, titelt das „Spektrum der Wissenschaften“ vom Oktober 2014 einen Bericht über Softwarefehler in Scankopierern der Firma Xerox, die seit acht Jahren bei der Datenkompression Ziffern veränderten, sodass in der Kopie also eine andere Zahl aufschien als im Original. Ein Architekt kam zufällig drauf, als er feststellte, dass verschieden große Räume mit denselben Quadratmetern Grundfläche ausgewiesen wurden. „Kopierer, die auf derart unmerkliche Weise Zeichen vertauschen, sind eine potenziell lebensbedrohende Gefahr. Man stelle sich nur vor, dass jemand auf Grundlage der falschen Zahlen eine Autobahnbrücke baut, ein Gerichtsverfahren führt oder gar die Dosierung eines Medikaments für ein ganzes Pflegeheim bestimmt.“14 Damit wird klar, dass auch die für unfehlbar und so zuverlässig gehaltene digitale Technologie höchst fehleranfällig und daher das Thema von Abbild und Wirklichkeit, Realität und Fiktion auch in der digitalen Reproduktion von höchster Bedeutung ist.
In dem Scan aus dem oben bereits erwähnten Gedicht von Mallarmé, den Michael Wegerer händisch mit Bleistift an der Wand der Galerie des Künstlerhauses reproduziert hat, ist das Wort Le Hasard (Der Zufall) groß und zentral zu lesen. Das Gedicht steht in Stéphane Mallarmés (1842 – 1898) experimentellem, die konkrete Poesie bereits begründenden Gedichtband „Un coup de dés“ (Ein Würfelwurf)15. „Ein Gedicht ist ein Geheimnis, dessen Schlüssel der Leser suchen muß“ und „Meine Verse haben den Sinn, den man ihnen gibt“, sagte Mallarmé über seine Poesie16. Und sie sei „offen für vielfältiges Verstehen“, denn „das Erkennen wird nicht mehr erzwungen“, urteilte Hugo Friedrich, der bedeutende Theoretiker der modernen Lyrik, der für Mallarmés Lyrik den „Begriff der unendlichen Suggerierbarkeit“ einführte17. Damit dreht Michael Wegerer die Diskussion über die Bedingungen und Möglichkeiten zeitgenössischer digitaler Kommunikation um und kehrt zurück auf eine Position der radikalen Kommunikationsverweigerung, die die radikale Moderne des 19. Jahrhunderts schon eingenommen hatte. Und „Der Rest ist Schweigen“? (Hamlet)
Zu reden Anlass gibt der Austausch der beiden KünstlerInnen, die ihren Dialog visualisieren, indem sie je ein Kunstwerk auswählen, das jeweils die andere in ihrem Teil der Ausstellung präsentieren muss. Dies ist für beide eine Herausforderung, denn die jeweils andere sieht Werke anders, beurteilt sie anders, gibt ihnen eine andere Rolle im Gesamtkonzept, als die KünstlerInnen selbst es vielleicht getan hätten: ein Prozess der wechselseitigen Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit für die Gedanken der anderen, des anderen. Ein künstlerischer Dialog, der dem Publikum hilft, die Intentionen der beiden KünstlerInnen zu verstehen und sie nicht nur sinnlich und intellektuell wahrzunehmen.
Aus: Um:Druck – Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur, Nummer 26, Oktober 2014, S.1 ff.