Von Oktober 2012 bis März 2013 zeigte das Wiener Leopold-Museum die Ausstellung „Nackte Männer“. Tatsächlich sind auf fast allen Arbeiten Männer abgebildet, allerdings sind erstaunlich viele eben nicht nackt, was Überlegungen zum Umgang mit dem Begriff „nackt“ herausfordert. Von Leonore Maurer
Die älteste der gezeigten Arbeiten ist eine altägyptische Skulptur aus der 5. Dynastie (um 2400 v.Chr.), die neueste, ein Laserchrome Farbdruck von Elmgren & Dragset, stammt aus dem Jahr 2009. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der westlichen Kunst der „Klassischen Moderne“. Saaltexte und Katalog betonen als einen Zweck der Ausstellung, die sich wandelnde Einstellung zur männlichen Körperlichkeit zu illustrieren. Aber das ist nicht einfach mit den Bildern nackter Männer abgehandelt: Da gibt es etliche Werke, die überhaupt keinen Mann darstellen, sondern etwa eine Frau (Maria Lassnig: Woman Laokoon, 1976) oder ein männliches Geschlechtsorgan (Louise Bourgeois: Filette, 1999). Letzteres könnte die Vermutung nahelegen, es gehe um die Nacktheit eben dieses Teils des männlichen Körpers. Was aber nicht stimmen kann, denn eben dieser Teil ist auf einer beachtlichen Anzahl der Darstellungen durch die Körperhaltung, einen Gegenstand, eine andere Person verborgen, durch den Bildrand abgeschnitten oder verhüllt durch Kleidungsstücke oder sogar durch das sprichwörtliche Feigenblatt (Gustav Klimt: Plakat zur 1. Kunstausstellung der Secession – Zustand vor der Zensur, 1898). Hier wirkt die betonte Nicht-Sichtbarkeit des thematisierten Objekts und rückt es in den Mittelpunkt der Interpretation.
Es geht um Darstellungen, die mit der Grenzzone zwischen gesellschaftlich gerade noch Toleriertem und absolut Tabuisiertem spielen – dem Skandalon, mit dem sich Aufsehen erregen lässt, das den Voyerismus mit ungewohnten Einblicken anspricht oder das für mehr Liberalität kämpfen will. Den sehr unterschiedlichen Einstellungen zu dieser „Nacktheit“ im Laufe der letzten 200 Jahre verdankt die Ausstellung ihre Spannung – gerade weil sich die allgemeine Liberalität seit Jahren wieder auf dem Rückzug befindet. Im Gegensatz dazu erlaubt die der Kunst garantierte Freiheit Darstellungen, die noch immer / schon wieder in der Öffentlichkeit verboten sind. Ein weiterer Freiraum entsteht dadurch, dass Künstlerinnen sich das Recht nehmen, das sich früher Männer vorbehielten: den von Scham erlösten Blick auf das andere Geschlecht – diesem Gesichtspunkt widmet sich der letzte und aktuellste Teil der Ausstellung.
In vier Abschnitte gliedern sich Ausstellung und Katalog: Kunst vor 1800, Klassizismus und Aufklärung, Klassische Moderne und Kunst nach 1945. Der erste, kleinste Abschnitt zeigt und bespricht auf Saaltexten Stichproben der Tradition: u.a. die Statue des ägyptischen Hofbeamten Snofrunefer (der am 20. Jänner dem Kunsthistorischen Museum zurückgegeben wurde und jetzt in dessen Ausstellung „Im Schatten der Pyramiden. Die österreichischen Grabungen in Giza“ zu sehen ist) und den Jüngling vom Magdalensberg (Abguss aus dem 16. Jahrhundert nach dem römischen Original) – schon bei diesen beiden Beispielen zeigt sich die unterschiedliche Bedeutung von Hüllenlosigkeit: während im Alten Ägypten nicht vorhandene Kleidung die soziale Nichtigkeit des Dargestellten markierte, betont die unbekümmerte männliche Nacktheit der Antike Kraft und Tugend (virtus), wobei aus Rücksicht auf die Eurhythmie die Geschlechtsteile klein gehalten sind, aus ästhetischen Gründen also, nicht aus moralischen. Gestreift wird weiters die noch wenig von christlicher Sexualangst geprägte frühneuzeitliche Kunst und die Entdeckung antiker Mythen und Geschichten als Thema der Renaissance-Kunst, einhergehend mit der Wiedereroberung „edler“ Hüllenlosigkeit.
Den Hauptteil der Ausstellung leitet der zweite Abschnitt ein, der vor 1800 einsetzt, also zu einer Zeit, als Hexenverbrennungen und Todesurteile wegen Blasphemie und Atheismus von manchen Philosophen und Wissenschaftlern unter eigener Lebensgefahr bereits verurteilt wurden. Noch herrscht die vom Bürgertum eingeforderte Prüderie, die das moralische Argument im politischen Kampf gegen die Vorherrschaft des Adels lieferte. Im Zeitalter der Aufklärung wagt sich männliche Nacktheit zurück in Anatomie und Aktsaal, die selbstverständlich Männern vorbehalten sind. Das Angebot an pornographischen Druckwerken: Einzelblättern, Büchern, Mappen, gehandelt unter dem Ladentisch, entschädigte für die zur Schau getragene Tugend.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt der „nackte Mann“ wieder zu einem anerkannten Thema zu werden, zuerst halb verschämt unter dem Argument des malerischen Realismus: Gemälde von badenden Knaben, auch Männern, Sportlern. Besonders die neue Technik Fotografie nimmt sich des neuen alten Themas an, sie erlaubt das Erkunden von Bewegungsabläufen und liefert Serien von Aktstudien, dezente homoerotische Idyllen tauchen auf (noch 1895 wurde Oscar Wilde in England wegen praktizierter Homosexualität zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt). Auch die Bildhauer genießen die neue Freiheit und orientieren sich dabei gerne an den Bildwerken des klassischen Altertums, wie sie von der Renaissance sanktioniert wurden.
Die Klassische Moderne, der dritte Teil der Ausstellung, führt das Leiden an der eigenen Psyche als Darstellung körperlicher, man kann beinahe sagen „Deformation“ vor. Gerade hier kann das Leopold-Museum auf den Reichtum der eigenen Sammlung österreichischer Werke zurückgreifen: Besonders Gerstl und Schiele haben prototypische Arbeiten zum Thema geschaffen, Anton Kolig dagegen bereichert mit seinen wohlgeformten Männerakten die Ausstellung um eine weitere Facette. Überhaupt erobert sich in dieser Zeit der „nackte“ Mann neue thematische Spielräume: Politik, Heiligendarstellungen, Trauerarbeit, Symbolik, …
Nach 1945 zeigt sich die Kunst befreiter, gleichzeitig aber auch einseitig fixierter denn je, unverhüllt thematisiert sie Sexualität in allen ihren Formen – wobei sie den Körpern gerne Kleidungsstücke belässt, bzw. deren Geschlechtlichkeit mittels Accessoires hervorhebt. Die Frauen nehmen hier erstmals gleichberechtigt teil.
Der inkonsequente Gebrauch des Wortes „nackt“ ist symptomatisch für den sich im Laufe der Jahrhunderte wandelnden Umgang mit dem Widerspruch: zwischen der in frühester Kindheit erlernten Scham beim Anblick des eigenen Körpers, beim Gedanken an dessen Bedürfnisse und dem Wunsch, ein problemfreies Verhältnis zu sich selbst und anderen zu gewinnen.
Die Ausstellung „nackte männer. von 1800 bis heute“ war im Leopold-Museum in Wien vom 19. Oktober 2012 bis zum 4. März 2013 zu sehen (Veranstaltungskalender S.30). Der gleichnamige Katalog bzw. das Kunstbuch, hrsg. v. Tobias G. Natter und Elisabeth Leopold, Hirmer Verlag, München 2012, 348 S., zahlreiche Farbabb. auch von nicht ausgestellten Werken, broschiert, 24,5 x 29 cm; ISBN 978-3-7774-5791-8, 978-3-7774-5721-5 und 978-3-7774-2017-2 mit je unterschiedlichem Cover; € 39,90
Aus: Um:Druck – Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur. Nummer 22, Jänner 2013, S.31