Leonore Maurer über „Fantastisch!“, die Ausstellung Rudolf Kalvachs und seiner Zeitgenossen im Leopoldmuseums.
„Fantastisch!“ steht im Titel der Ausstellung des Leopoldmuseums um Rudolf Kalvach und seine Zeitgenossen: Nicht einfach ein unspezifisches Lob, sondern eine Einordnung seiner Arbeiten, allerdings nicht aller, zumindest auf den ersten Blick. Denn was jedem Betrachter von Kalvachs Arbeiten wohl auf den ersten Blick auffällt, ist ein Gegensatz: realistische Hafendarstellungen auf der einen Seite, phantasievoll groteske Bildschöpfungen auf der anderen.
Rudolf Kalvach ist das Zentrum, um den sich in dieser Ausstellung die Arbeiten seiner Zeitgenossen, berühmter wie Oskar Kokoschka und weniger berühmter, gruppieren. Die Bedeutung der Druckgraphik, im besonderen des Farbholzschnittes, und der Gebrauchskunst im frühen 20. Jahrhundert ist hier ausführlich dokumentiert und kommentiert.
Vieles in Eudolf Kalvachs Œuvre ist Gebrauchskunst, er war ein Allround-Künstler: malte, aquarellierte, arbeitete in Email, schuf Holz- und Linolschnitte, Lithographien, Schablonendrucke. Ebenso vielfältig sind seine Arbeiten: Gemälde, ein Kinderbuch, Zeichnungen, Bilderbogen, Emailarbeiten, Plakate, Spiel-, Geschäfts-, Ansichts- und Glückwunschkarten, Porträts, Exlibris. War er ein „Frühvollendeter“, wie romantisch Gestimmte gern jene nennen, die in jugendlichem Alter eine erfolgreiche künstlerische Laufbahn beenden müssen?
Rudolf Kalvach wurde 1883 in Wien als Sohn eines aus Ostböhmen stammenden Bahnangestellten geboren. 1900 bis 1912 studierte er mit Unterbre-chungen an der Kunstgewerbeschule des k.k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute Universität für angewandte Kunst) mit Hilfe von Stipendien. Eine erste Publikation einer Arbeit gab es schon 1904, im Schuljahr 1906/07 hatte Kalvach bereits seine erste Teilnahme an der Ausstellung der „Jungen“ in der Galerie Miethke – zeitge-nössische Kritiken hoben den Mut der „Jungen“ zur Buntheit hervor – und wurde Mitarbeiter der Wiener Werkstätte, die seine Entwürfe für Postkarten und Bilderbogen druckte. Gleichzeitig schuf er seine ersten Triester Hafenansichten im Holzschnitt (Kalvachs Familie war 1901 nach Triest übersiedelt), zwei seiner Gemälde aus dieser Zeit werden später in Brüssel im Palais Stoclet hängen.
Damit war Kalvachs Name breiten Publikumsschich-
ten bekannt. Immer wieder wurden seine Arbeiten in Zeitschriften veröffentlicht und auf nationalen und internationalen Ausstellungen gezeigt, seine Entwürfe für Glückwunsch- und Ansichtskarten, Plakate, Werbematerial, Spielkarten gedruckt. Diese Erfolge beschränkten sich nicht auf die grafischen Auftragsarbeiten, auch die Gemälde, Emailbilder und freien Druckgraphiken, besonders die Triester Hafenansichten, waren allgemein hoch geschätzt. 1911 erhielt er ein Stipendium für eine Nordeuropareise, 1912, als Schüler der Emailklasse an der Kunst-gewerbeschule, wurde er in die psychiatrische Anstalt am Steinhof gebracht: Diagnose „Wahnsinn“. Erst 1915 konnte er die Anstalt verlassen, allerdings wurden auch in der Zwischenzeit Arbeiten von ihm ausgestellt. Er begann wieder künstlerisch zu arbeiten, zum Kriegsdienst war er untauglich. 1921 musste er wieder nach Steinhof, 1926 wurde er als tschechischer Staatsbürger – aufgrund der Heimatzuständigkeit seines Vaters in der Tschechoslowakei – in die psychiatrische Anstalt in Kosmonosy überstellt, wo er 1932, als Künstler vergessen, starb.
An Kalvachs Arbeiten fiel Lehrern und Kritikern stets ein Zug auf, den sie als kindlich, naiv, primitivistisch einstuften. Mit seinen Arbeiten war er in hohem Maße ein Sohn seiner Zeit, gleichzeitig aber auch originell und ungewöhnlich: Jugendstil, Wiener Werkstätte und Expressionismus prägten seine Arbeiten. Seine Vorliebe für den Holzschnitt war zeittypisch, denn druckgraphische Techniken kamen der Forderung nach „Kunst für den Alltag“ entgegen, Künstler wurden häufig mit Entwürfen für, aber auch der Ausführung von Alltagsgegenständen beschäftigt, Es gab keinen Gegensatz zwischen Gebrauchs- und hoher Kunst, ein Künstler vergab sich nichts, wenn er als „Designer“ arbeitete, im Gegen-teil, es machte einen Teil seines Erfolges aus.
Bei den Druckgraphiken sind Rudolf Kalvachs Figuren oft reduziert, flächig, mit nur der nötigsten Binnenzeichnung, manchmal auch reine Farbflächen, die mit der natürlichen Form und Farbe wenig oder nichts zu tun haben. Kalvachs Farben sind grell, in ihrer Zusammenwirkung meist düster, Diese realitätsferne Ausgestaltung geht zusammen mit hoher Ausdrucksstärke: eckig steife Haltung und dramatische Bewegungen sind eindeutig bestimmten, meist einfachen Gefühlen oder Absichten zuordenbar. Auch für die Tiere und Fabeltiere ist eine gut verständliche Körpersprache charakteris-tisch. Andere Naturgegenstände sind formal stark reduziert: Bäume als Dreiecke oder Kreise, Blumen als Flecken, Wasser als Zick-zack-Linien dargestellt.
Himmel gibt es auf Kalvachs Bildern extrem selten, die Hintergründe sind entweder schwarz oder die Figuren bildfüllend. Diese erwecken in hohem Maß den Eindruck von Phantasiegebilden, wobei, abgesehen von den wenigen religiösen Arbeiten, die Identifikation durch den Titel (in den seltensten Fällen original) oft eher willkürlich wirkt: etwa „Brünhild, Siegfried und der Drache“ (1909/12, Email auf Kupfer) könnte ebenso gut ein „Heiliger Georg mit Prinzessin und Drache“ sein. Überzeugender sind da schon rein beschreibende Titel, wie „Zwei Minnesänger auf einem Fabeltier“ (1907, Postkarte, Li-thographie). Die hohe Freiheit, die den Künstlern bei Entwürfen für Gebrauchsgegenstände zugestanden wurde, zeigt sich gerade bei Kalvach: Postkarten, Werbeplakate, Spielkarten zeichnen sich durch Bizarrerie in Motiv und Durchführung aus, nicht durch augenscheinliche Effektivität: Aufschriften auf Plakaten sind zeittypisch schwer leserlich, Glückwunschkarten betont modern, der Wert mancher Tarockkarten ist nicht leicht erkennbar.
Wie passt dies alles nun zu dem eindrucksvollsten Teil von Kalvachs Werk: der Holzschnitt-Serie „Triester Hafenbilder“? Auffallend ist die realistische Ausgestaltung (das gilt auch für die Tarockkarten, die Kalvach im Auftrag des Österreichischen Lloyd entwarf und die für den Gebrauch auf den Schiffen gedruckt wurden). Als dunkle, wenig detaillierte Massen schieben sie sich in den Vordergrund, klei-ne menschliche Figuren arbeiten auf den Schiffen oder am Pier. Es gibt hier einen Himmel, er dient als Hintergrund für Masten, Taue, Möwen oder ist von Wolken grob strukturiert.
Gedruckt sind diese Holzschnitte in schwarz-weiß auf chinesischem oder europäischem Papier oder Pergamin, diese Druckunterlagen unterscheiden sich voneinander durch ihre Saugfähigkeit, was ein Spektrum von pastosem Schwarz bis zu durch-scheinendem Grau erzeugt. Zusätzlich sind die Drucke handkoloriert in verschiedenen Farbzusammenstellungen, dicht deckend, düster bei aller Bunt-heit, einige ins Auge fallende Farbflecken setzen jeweils unterschiedliche Akzente, die die Kompositionsstruktur verschieben. In der Ausstellung sind diese Varianten, die sich in Stimmung und Bedeutungsschwerpunkten voneinander unterscheiden, nebeneinander zu sehen. Auch ein Großteil der Stöcke ist ausgestellt.
Im Gegensatz zur sonstigen summarischen Darstellung steht die Ausführung der Schiffsplanken und Ziegelmauern („Gegen die Mole“) mit ihren feinen weißen Trennlinien und der Taue mit ihren liebevoll ausgeschnittenen Windungen. Die Aufmerksamkeit, die Kalvach diesen Objekten zuwandte, fordert eine psychologische Deutung geradezu heraus. Zumal die Ziegel auf den Studien zu dem Exlibris „Ingenieur Wilhelm Strauss“ ebenso ausgeführt sind.
Gerade der Realismus dieser Hafenbilder, dieser festvertauten Schiffe am Tor zur weiten Welt, ihre Monumentalität und Düsterkeit transportiert mit anderen Mitteln eine Stimmung, die vereinbar ist mit der Realitätsflucht von Kalvachs sonstiger Bilderwelt.
Die Ausstellung „Fantastisch! Rudolf Kalvach. Wien und Triest um 1900“, kuratiert von Roberto Festi, Franz Smola und Alessandra Tiddia, ist im Leo-poldmuseum vom 7. Juni bis 10. September 2012 zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog: „Fantastisch! Rudolf Kalvach. Wien und Triest um 1900.Vienna e Trieste attorno al novecento“, hg.v. Tobias G.Natter, Roberto Festi und Franz Smola, deutsch und italienisch, Silvana Editoriale, Milano 2012
Dass Rudolf Kalvach wieder entdeckt wurde und dass seine biographischen Daten inzwischen bekannt sind, ist der unermüdlichen Forschungsarbeit seines Enkels Giorgio Uboni und dessen Frau zu verdanken.
Aus: Um:Druck – Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur. Nummer 20, Juli 2012, S.12f