Ana Popescu, Die Großmutter

Edition Jugendfrei 19

Von einer reinen Strichätzung, die in ihrer puristischen Technik wie eine Federzeichnung anmutet, blickt uns eine ältere Frau mit straff nach hinten gekämmtem weißen Haar mit ernstem, sogar strengem Blick an, prüfend, ob sie den leicht geöffneten Mund weiter aufmachen und uns ihren letzten Satz nochmals wiederholen soll. Ihre linke Hand hält sie in einer Geste, die Nachdenklichkeit signalisiert, an die Wange. Gesicht und Handhaltung, sicher auch der ganze Körper, den wir nicht sehen, sind gespannt. Die Frau wartet, selbstbewusst wie sie ist, auf eine Reaktion ihres Gegenübers, denn sie ist gewohnt, dass man ihr nicht nur zuhört, sondern auch auf sie hört.

Es ist die rumänische Großmutter von Ana Popescu. Die Künstlerin erfasst nicht nur das Äußere, sondern auch das Benehmen und den Habitus der Frau mit einfachen Strichlagen, die fast alle in derselben Richtung, in der Senkrechten, laufen. Die Striche folgen nicht den Umrisslinien des Körpers, sondern verbinden sich in ihrer unterschiedlichen Länge und Dichte zu Schraffuren, die Raumtiefe und Volumen, Licht und Dunkelheiten modellieren. Nur an wenigen Stellen unterstreichen schräge oder waagrechte Striche räumliche Details. Dies ist eine traditionelle Methode der Druckgraphik, Materialität und Farbigkeit nur mit Hilfe der Schraffur abzubilden.

Die von Ana Popescu angewandte Methode des Schraffierens hat sie vom schwedischen Maler und Radierer Anders Zorn (1860 – 1920) übernommen, der „einen wie mit der Schreibfeder geführten Strich in die Radierkunst eingeführt und die räumliche Wirkung seiner Figuren in erster Linie durch ein scharf voneinander abgesetztes Hell-Dunkel erreicht“ (Walter Koschatzky, Kristian Sotriffer: Mit Nadel und Säure. 500 Jahre Kunst der Radierung. Katalog, Albertina Wien, 1982, S.137). Popescu übernimmt das Energische, nicht aber das Impressionistische und manchmal fast Gewalttätige von Zorn, denn sie gestaltet die räumlichen Wirkungen subtiler, empfindsamer. So wie Zorns „energisch ausfahrende Strichbündel [ … ] als zumeist parallel gelegte rhythmische Module zu lesen“ sind (Ernst Rebel: Meisterwerke der Druckgraphik. Reclam, Stuttgart 2010, S.239), sind auch Popescus Striche zeichnerische, aber stark malerisch wirkende Realisationen von Haar, Augen, Haut und Stoff.

Neben dieser Zeichentechnik und parallel zu ihr pflegt Ana Popescu auch einen anderen Stil, der das genaue Gegenteil der raumschaffenden Schraffuren ist, nämlich eine an Raymond Pettibon angelehnte Methode, mit der die Figuren aus Umrisslinien und einigen wenigen Binnenlinien gebildet werden. Beide Methoden sind für die reine Ätzradierung sehr geeignet und ergeben, wenn man so sorgfältig und präzise ätzt und druckt wie Ana Popescu, hervorragende Druckgraphiken.

Philipp Maurer

Ana Popescu, geboren 1988 in Tîrgu-Mures, Rumänien, erwarb 2006 das Baccalauréat an der Ecole Internationale des Pontonniers in Straßburg, Frankreich. Von 2006 bis 2008 studierte sie Kunstgeschichte und Philosophie an der Eberhard-Karls Universität in Tübingen, Deutschland. Seit 2008 studiert sie an der Universität für angewandte Kunst Wien, Abteilung Grafik/Druckgrafik bei Prof. Jan Svenungsson. 2009 nahm sie an der Gruppenausstellung „Umsteigen 2“ der Klasse für Druckgrafik in der Sala Terrena, Heiligenkreuzerhof Wien und im Ueno Town Art Museum Tokyo teil. 2010 zeigte sie im Künstlerhaus Wien in der Ausstellung der Universität für angewandte Kunst „Essence“ ihr Krimiprojekt „ Nachdem es passiert ist“ in Kooperation mit dem Institut für Sprachkunst, Universität für angewandte Kunst Wien. Derzeit konzentriert sie sich auf die Medien Zeichnung, Strichätzung und Fotoradierung.

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