Evelyn Chines: Purer Genuß

Edition Jugendfrei 13

Ein Stillleben, mit Gegenständen, die an Essbares erinnern, an einen Fisch vielleicht, auf Tellern und Tüchern ausgebreitet. Besonders appetitlich schaut das Dargebotene nicht aus, denn das fahle Braun riecht ein bisschen nach Herbst und nach Verwesung. Die Gegenstände liegen auf einer bildparallelen horizontalen Fläche, die wir als Tischfläche bezeichnen wollen, mit dem für Stillleben charakteristischen hohen Betrachterstandpunkt, durch den die hintere Tischkante weit nach oben wandert. Die Vorderkante des Tisches liegt unter dem Bildrand, wodurch uns die toten Gegenstände noch näher ans Auge gerückt werden.

Das Lebendigste in diesem Stillleben sind zwei Servietten, augenscheinlich aus Papier, die nicht platt aufliegen, sondern wie durch einen Luftzug bewegt, wellenförmige Dynamik ins Blatt bringen. Ihr Karomuster, das für ländliche Tischtücher und Servietten charakteristisch ist, wird durch den mit lockerem Strich gezogenen, perspektivisch verzerrten Raster dargestellt. Dies erinnert an jene Rastermodelle, mit denen Quantenphysiker vieldimensionale Räume zu verbildlichen suchen, ein Versuch, der dem an dreidimensionale Räume gewohnten Auge eher ästhetische Erlebnisse bringt als echtes Verständnis. Auf unserem Blatt öffnet diese Darstellung den Blick für die vierte Dimension, die einem Stillleben oft eignet: auf die bewegte Zeit, das Fortschreiten zum Tod, die Vanitas.

Unser Blatt stellt sich nicht nur formal durch die Komposition und den Einbezug der Zeit, sondern auch inhaltlich in die Tradition der Stillleben, vor allem der holländischen, in denen Speisedarstellungen höchst beliebt waren. Die eher unzutreffend als „Frühstücksstillleben“ übersetzten Motive heißen auf holländisch „Ontbijtjes“, was ich am liebsten, jedenfalls auf unser Blatt am zutreffendsten, mit „Imbissstillleben“ übersetzen würde.

Auf einem der beiden (Papp-?)Teller, die ganz realistisch dargestellt sind durch die im Kreisring angeordneten Schraffuren, meint man zuerst einen Fischkopf zu erkennen, dessen Anblick, besonders des toten Auges, schon manchen einheimischen Esser veranlasst hat, seinen Fischgenuss auf Filets zu beschränken. Nicht erkennbar ist alles andere, was da präsentiert wird, interpretierbar allerdings in hohem Maße, etwa als Blattgemüse, das sogar zum Fisch passen würde.

Aber es geht eben nicht um Zusammenpassendes, es geht nicht einmal um Genüsse: es handelt sich, wie Evelyn Chines versichert, um rohe Hühnerflügel, also um das Rohmaterial eines heute beliebten schnellen Imbisses. Und wenn man genau hinschaut, findet man die typische Dreiecksform der Flügel und die körnige Struktur ihrer Haut wieder. Nein, es geht gerade nicht um „pure Freude“ am Genuss der gegrillten Hühnerflügel, sondern es geht um die pure Freude an der Erkenntnis der inneren Strukturen und Qualitäten.

Den Blick in innere Strukturen hat Evelyn Chines schon als Kind trainiert, als sie die Bilder in den Anatomiebüchern ihres sizilianischen Vaters faszinierten. Heute besucht sie gerne das Josephinum, um die Präparate zu studieren. Zu ihrem Stillleben sagt sie: „Man muss nicht den natürlichen Zustand eines Körpers verfälschen, um die Eigenschaften des Körpers zu erkennen. Rohes Fleisch wird so lange präpariert, bis es appetitlich aussieht, es wird bis zur Genießbarkeit verkocht. Doch das alles ändert nichts an seiner wichtigsten Eigenschaft: der Qualität. Auch bei Menschen, die sich mit allen Mitteln in ein Idealbild zwängen wollen, ändert das nichts an der inneren Qualität. Jeder Mensch ist individuell – und soll es auch bleiben. Ich versuche mir ein eigenes Bild zu machen von den Personen, die ich kennenlernen darf. Was in diesem Fall bei einer Auseinandersetzung mit rohen Hühnerflügeln entstanden ist, ist meine Interpretation von deren Form und Struktur.“

Philipp Maurer

Evelyn Chines, geboren 1989 in Taormina auf Sizilien, studiert an der Wiener Kunstschule im 3. Semester und arbeitet in den Ferien in der Marketingabteilung einer Firma, wo sie ihre im Studium erworbenen Kenntnisse verwerten kann.

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