Hommage an Gerenot Richter
Eine Werkschau in 6 Kapiteln
„Werkschau in 6 Kapiteln“ nennen die Veranstalter eine Hommage an den Berliner Graphiker Gerenot Richter anlässlich seines 90. Geburtstages und 25. Todestages in diesem Jahr. Die Ausstellungsreihe wird in sechs Galerien in und um Berlin vom Mai dieses Jahres bis zum April nächsten Jahres gezeigt. Sie folgt keinem chronologischen Prinzip, sondern ist nach Werkgruppen geordnet. Von Volkhard Böhm
Gerenot Richter, am 5. Dezember 1926 in Dresden geboren, war ein Meister der Radierung. Von 1949 bis 1953 absolvierte er ein Lehrerstudium für Kunsterziehung und Geographie in Dresden, Leipzig und schließlich Berlin. In Berlin, an der Humboldt-Universität, begann er 1955 seine Lehrtätigkeit am Institut für Kunsterziehung, promovierte 1957, 1971 wurde er zum Professor berufen. Zwischenzeitlich, von 1962 bis 1965, studierte er noch an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin-Weißensee. Kurz nach seiner Emeritierung verstarb der Künstler nach schwerer Erkrankung am 5. Januar 1991 in Berlin.
Richter begann sein Schaffen nicht nur als Druckgraphiker sondern auch als Maler. In seiner Druckgraphik dominierte anfangs die Lithographie, aber schon bald wurde der Tiefdruck in all seinen Spielarten sein eigentliches Metier. Die Zeichnung begleitete sein gesamtes Œuvre. Sein gesamtes Werk, besonders aber die Radierung, ist von einer klaren, detaillierten, realistischen Bildsprache bestimmt.
Kapitel 1
„Nach dem Sturm – Vom Antlitz der Bäume“1
Die erste Ausstellung ist in der Kirche am Weg (auch Rad-Wander-Kirche) in Dannenwalde nördlich von Berlin zu sehen. Diese relativ kleine Kirche wurde 1821 vom Baumeister Hermann (1784-1842) aus dem nahen Zehdenick, einem Schüler Gillys bzw. Schinkels, im neugotischen Stil erbaut. Der eigenwillige, klar gegliederte Bau mit seinem langgestreckten achteckigen Grundriss wird heute neben den Gottesdiensten durch einen Kulturverein auch für Kulturveranstaltungen und Ausstellungen im Kirchenraum und auf den Emporen genutzt. Dieser Kirchenraum ist der ideale Ausstellungsort für Richters existenzialistische Graphikfolge „Nach dem Sturm“, die den Schwerpunkt dieser Ausstellung bildet. Dazu kommen weitere Graphiken und Zeichnungen, in denen Bäume ein zentrales Bildmotiv darstellen, wie bei Blättern aus der Hommage-Folge und der Folge der „Gleichnisse“.
Der Baum ist ein universelles Symbol in vielen Kulturen. Um diese Symbolik zu begreifen, muss man die Bäume sehen und erleben im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten. Richter hat das immer wieder bei seinen Aufenthalten in der Natur getan. Still stehen sie, in der Erde verwurzelt, voller Leben, immerfort wachsend, mit allen Elementen in Verbindung stehend, sich mit der Krone gen Himmel reckend, so Erde und Himmel verbindend, Sinnbild für das Leben und für Schutz und Behütetsein. In den Bäumen und dann auch in der reichen Pflanzenwelt sieht Richter, der Naturliebhaber, der nicht religiös gebunden ist, etwas Erhabenes, Ewiges, Verehrungswürdiges.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1980 fegten orkanartige Stürme über weite Teile Thüringens und den Südharz und auch die am Rande von Nordhausen gelegene Parkanlage Hohenrode. Dieser Park ist die größte historische Parkanlage aus dem 19. Jahrhundert in der Stadt, angelegt von dem Gartenkünstler Heinrich Siesmayer im englischen Landschaftsstil. Hohenrode, das bei den schweren Bombardierungen, die Nordhausen 1945 stark zerstörten, vollständig verschont geblieben war, wurde bei dieser Sturmkatastrophe sehr in Mitleidenschaft gezogen. Große Bäume wurden aus dem Boden gerissen, umgeknickt, seltene Baumsorten und Architekturdenkmale beschädigt. Bis 1981 dauerten die Aufräumarbeiten. Richter sieht die Zerstörungen unmittelbar nach dieser verhängnisvollen Nacht und sie müssen ihn, den intensiven Naturbeobachter und -liebhaber, tief erschüttert haben. Er zeichnete und radierte bis 1982 die sechs großformatigen Blätter „Nach dem Sturm“. In diesen spürt man förmlich den Schmerz über dieses Geschehen, hört das Geräusch des splitternden Holzes, das kreischende Krachen der umstürzenden Bäume, das dumpfe Poltern zusammenstürzender Bauwerke, das Zerschellen herabstürzender Ziegel, den peitschenden Regen und das Tosen des abziehenden bzw. abgezogenen Sturmes, die beängstigende Stille danach. Groß ragt die verwundete Natur in all ihrer endzeitlichen Stimmung voller Dramatik auf vor dem unheilschwangeren gleichmäßig dunkelgrauen Himmel. Auch wenn in Richters Bildern keine menschlichen Opfer zu sehen sind, lässt diese apokalyptische Stimmung besonders im Blatt I der Folge auch Assoziationen zum Mittelteil von Otto Dix’ Triptychon „Der Krieg“ (1929-1932) zu. Hier steht die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ im Fokus, bei Richter eine Naturkatastrophe, aber auch die Ahnung von weiteren Katastrophen. Manche der zerschmetterten Bäume werden sogar zum Kreuzbaum, Sinnbild für das Leiden, für das kosmische und biblische Mysterium.
Richter hat sich auch schon vor dieser Folge mit der Darstellung der Natur, von Flora und Fauna, in ihrer üppigen Vielfalt wie mit ihrem Verfall in der Darstellung von Rudimenten und von verletzten Bäumen beschäftigt. In dieser Folge aber steht ganz im Mittelpunkt das Thema, mit dem sich alle großen Kunstwerke der Welt beschäftigen: der Vergänglichkeit allen Lebens. Sie nimmt damit eine Schlüsselstellung im Werk des Künstlers ein. Von nun an lässt ihn diese Zuspitzung des Themas nicht mehr los, zur naturgegebenen Vergänglichkeit kommt das Vergehen durch andere Ursachen. Es ist auch diese Ahnung des Künstlers, die hier schon bildhaft wird. Seine Befürchtungen vor einem Atomkrieg mögen hier hineingespielt haben. Ende 1979 fasste die NATO ihren Doppelbeschluss und nach der Entspannung der 1970er Jahre kam es durch den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan zu einer erneuten Verschärfung des Kalten Krieges. Das Baumsterben wurde wenig später zum Thema, wenn auch in den gesellschaftlichen Debatten in der DDR nur sehr eingeschränkt. Aber gerade solch ein intensiver Beobachter, wie Richter, musste diese Beobachtungen und Veränderungen geradezu seismographisch wahrnehmen.
Kapitel 2
„Ging heut’ morgen übers Feld – Hommage und Gleichnis“2
Gleichzeitig und in den Jahren danach entstanden die Hommage-Graphiken und die Gleichnisse. Gezeigt werden sie in der Domgalerie unmittelbar neben dem Dom der Kleinstadt Fürstenwalde nordöstlich von Berlin.
Beide Thematiken, jeweils teilweise in Folgen zusammengefasste Einzelgraphiken, haben viel gemeinsam: Den dicht gedrängten Bildaufbau, oft simultane Szenerien und obwohl manchmal gleichzeitig entstanden, bauen sie aufeinander auf, bilden die Gleichnisse einerseits die gestalterischen Fortsetzungen der Hommage-Graphiken, anderseits überschneiden sie einander. Dann sind einzelne Hommage-Blätter gleichzeitig Gleichnisse und umgekehrt.
In all diesen Graphiken nimmt Richter in unterschiedlicher Weise Bezug auf seine künstlerischen Vorbilder, bekennt sich zu seinen Wahlverwandten, sei es, indem er Motive aus Werken dieser Künstler in seine Bildgestaltung einfügt oder indem er deren Gestaltungsweise folgt. Ab Mitte der 1970er Jahre konzentriert er sich technisch ganz auf die Radierung – die Lithographie gibt er vollkommen auf – und motivisch auf die Natur- und Kulturlandschaft. Es ist eine Zeit, in der viele KünstlerInnen zu einer subjektiveren Sichtweise auf die Realität und eine noch differenziertere Bildsprache fanden. Für die Literatur, in der sich eine ähnliche Tendenz abzeichnete, sprach man immer häufiger von Neuer Subjektivität und Neuer Sensibilität.
Diese Konzentration auf die Radierung und die neuen Bildmotive ging bei Richter einher mit dem verstärkten Bezug zu älterer Kunst. Dabei inspirierten ihn anfangs besonders die Landschaftsradierungen des Chodowiecki-Schülers Carl Wilhelm Kolbe d.Ä. (1759-1835). Hier übernahm er die besondere Vorliebe auf für die Darstellung von Bäumen und einer üppigen Pflanzenvegetation. Bestätigung fand er in den Werken der Renaissance-Künstler, vor allem und immer wieder bei Albrecht Dürer und dessen „Staunen“ über die Natur, aber auch bei Albrecht Altdorfer und Martin Schongauer. Wahlverwandte sieht er aber auch in Giovanni Battista Piranesi, Hercules Seghers, Pieter Bruegel, Rudolphe Bresdin, Charles Méryon, Horst Jansen, Ernst Barlach und Gerhard Marcks. Richter ging in den Graphiken, die in diesem Ausstellungsteil besonders gewürdigt werden, wie in seinem gesamten Werk vom Realismus aus, abstrahierte dann aber nicht in Richtung Gegenstandslosigkeit, sondern addierte surreal verschiedene Bildelemente und Zeiten. Dabei zeigte er sich als ehrfürchtiger Betrachter und Teilhaber der beseelten Natur und steht in dieser spirituellen Durchdringung der Landschaft der Geisteshaltung der Frühromantiker nahe. Das Erhabene ist in allen Dingen und Lebewesen. Damit können diese Graphiken auch als eine bewusste Reaktion auf die Zerstörung von Natur und Landschaft und deren auslösendes Erlebnis in den vorhergegangenen Graphiken „Nach dem Sturm“ gesehen werden.
In den Niederlanden begannen die Künstler im Spätmittelalter präzise Skizzen von Händen und Gesichtern, von Insekten und Blättern anzufertigen, um der Realität möglichst nahezukommen. In Deutschland strebten die Künstler nach Naturalismus und räumlicher Tiefe. Die detaillierte Darstellung der Pflanzwelt fand Eingang in die Bildmotive. So wurde der Spitzwegerich erstmals detailliert dargestellt in Stefan Lochners Dreikönigsaltar, auch Altar der Kölner Stadtpatrone und schließlich Kölner Altarbild genannt, entstanden um 1445 ursprünglich für die Rathauskapelle. Neben der Darstellung von Bäumen ist es auch die von alltäglichen, unspektakulären Pflanzen, die Richter als faszinierten Naturbeobachter zu seiner empathischen Kunst führte – eine intellektuelle Künstlerschaft inspiriert vom Humanismus. Gerade in der Kunst des Mittelalters und dann der Renaissance hatte die Wahl der Pflanzen, die man darstellte, immer auch eine symbolische und metaphorische Bedeutung. Oft waren es Pflanzen, die als Heilpflanzen wirkten (das Grassieren der Pest dauerte noch an oder war gerade erst überwunden), die aber, falsch genutzt, bei einigen Kranken auch zum Tode führten. Solche Kenntnisse bzw. Überlegungen mögen auch bei Richters Pflanzendarstellung eine Rolle gespielt haben. Bei ihm sind es oft breitblättrige Pflanzen, wie die Pestwurz, die oft an Bach- und Flussufern zu finden ist und die von den Menschen im Mittelalter gegen die Pest eingesetzt wurde. Dann die Klette oder die Brennnessel, landläufig Unkrautpflanzen, die jedoch ebenfalls Heil bringend wirken, wie Lochners Spitzwegerich. Dazu kommen Blühpflanzen, wie der Fingerhut, der Ritterstern und die Iris, die Lilie, die Lieblingsblume Richters. Einzeln oder in Gruppen können sie dann auch zu einem dominierenden Motiv werden.
Liegt in den Hommage-Blättern noch der Schwerpunkt auf Motiven und biographischen Bezugspunkten der Gewürdigten, werden Richters Gleichnisse ganz entscheidend in Reaktion auf die Sturmbilder zu prallen Pflanzenschauen, zu einer überbordenden Darstellung der realen Flora. Für Ersteres stehen die Graphiken zu Dürer3, Gerhard Marcks4, Andrea Mantegna5, Martin Schongauer6, Albrecht Altdorfer7 oder schließlich Georg Friedrich Kersting8.
In den größeren Radierungen der Gleichnisse schloss er an diese Würdigungszeremonie an. So verwendete er in seinem II. Gleichnis, einer Graphik zum Gedenken an den Komponisten Gustav Mahler, Motive von Pieter Bruegel9, Egon Schiele10 und René Magritte11. Der Anlass für diese großformatigen Radierung aus dem Jahre 1984 war der 100. Geburtstag der „Lieder eines fahrenden Gesellen“, die Gustav Mahler 1884 komponiert hatte. Mahler, einer der Lieblingskomponisten Richters, sagte über sich, er sei „[…] dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude unter allen Nationen der Erde.“ In seinem Werk „Ging heut’ morgen übers Feld – Gustav Mahler 1884“ stellte Richter diesen großen Komponisten nicht nur in einen universellen kulturellen Zusammenhang, er verortete ihn auch darin und gab ihm damit eine „ewige“ Heimat, denn rechts in der Graphik zeigte er zusätzlich Mahlers Grabmal auf dem Grinzinger Friedhof, entworfen von Josef Hoffmann, links im Hintergrund das barocke Stift St. Florian, hier war Mahlers Lehrer, der Komponist Anton Bruckner, tätig und ist hier beerdigt. Durch diese universelle Einbindung mit den verschiedensten Querverweisen werden diese Werke Richters ebenfalls zu Werken mit Gleichnis-Charakter.
Analog stellte er in „Gleichnis I“ (1983) das Werden dem Vergehen in der Natur gegenüber und erzielte mit ähnlichem Bildaufbau in dem großformatigen Blatt „Der ungetreue Hirt – Hommage à Bruegel“ (1984/85) mit Bruegels Figur des ungetreuen Hirten aus dem Johannesevangelium12, eine gleichartige Wirkung. In beiden Blättern verwendete Richter Bildmotive, gefunden auf seinen Reisen auf den Darß (Teil einer Halbinsel an der südlichen Ostseeküste Deutschlands) bzw. nach der Sturmkatastrophe im Park von Hohenrode. So ist es auch in einer weiteren an Bruegel anknüpfenden Graphik, dem „Gleichnis II – Die Blinden“ von 1985/86. Hier fügte er die Figurengruppe aus Bruegels „Der Sturz der Blinden“ von 1568 ein und natürlich wieder Eindrücke aus dem Park von Hohenrode in Nordhausen. Die Metapher des Vergehens, des Untergangs wird so doppelt zum Menetekel. Immer wieder Hohenrode, das Bild der Katastrophe, lässt ihn als Bild für ein immerwährendes Verhängnis nicht los.
Mittlerweile ist die Erkenntnis Konsens, dass auch Naturkatastrophen auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben und das künstlerische Schaffen erhebliche Nachwirkungen zeitigen können. Obwohl die Sturmkatastrophe von Hohenrode bei Richter eine ganze Graphikfolge beeinflusste, bewirkte sie bei ihm in der Folge keine Horrorvisionen, keine Neuauflage einer „schwarzen Romantik“, kein Abgleiten in einen, wie auch immer gearteten Pessimismus. Zwar tauchen immer wieder Baumruinen auf, aber auch immer wieder teilweise überschäumendes Pflanzenwachstum.
1988, in der „Begegnung – Bremer Iris“, radierte er links im Vordergrund ein ganzes Beet von Schwertlilien, überragt von der Iris aus Albrecht Dürers „Aquarellstudie“, die sich in der Bremer Kunsthalle befindet. All diese Lilien sind Variationen, Wiederholungen und es sind eigentlich zu viele. Nur mit der Erfahrung von Hohenrode ist dieses „Zuviel“ zu erklären und natürlich ist dann auch diese Blume Zeichen und Symbol: Die Iris, auch Schwertlilie, gilt als Herrschafts- und Glaubenssymbol, aber auch als Sinnbild für verschmähte Liebe. Wandelt deshalb das Dürersche Bauernpaar darüber, gestikulierend im Gespräch oder gar im Streit vertieft den Feldweg entlang? Keine Pflanze hat über einen längeren Zeitraum eine solch wichtige Rolle in der Blumensymbolik gespielt. Richter folgte in dieser Symbolträchtigkeit seinen Vorbildern und Wahlverwandten in der Kunstgeschichte. Auch sie hat neben ihrem Blütenzauber Heil bringende medizinische Wirkung, wie viele der anderen von Richter dargestellten Pflanzen.
„Da steht von schönen Blumen / Die ganze Wiese so voll.“ – dichtete Goethe in „Schäfers Klagelied“. Auch bei Goethe sind Blumen in seinen Versen nicht unbedingt reale Pflanzen, es sind vielmehr, jedenfalls häufig, Zeichen und Symbole. Zeichen für die Liebe, Schönheit, Hoffnung – Aufblühen. Auch die alten Weiden, ein immer wiederkehrendes Motiv bei Richter, sind solch ein Zeichen. Aus einem alten knorrigen Stamm treiben immer wieder neu Zweige aus. Und Richter fügt noch ein weiteres Symbol links neben dem wandelnden Bauernpaar ins Bild ein. Dort grasen friedlich einige Rinder und die Kuh gilt doch in vielen Kulturen als Symbol der Fruchtbarkeit, Reichtum, Segen, Fülle und Wohlstand.
Diese Graphiken sind aufgebaut wie Collagen, in denen ein Vordergrund über einen Hintergrund gebreitet wird und dieser an einigen Stellen durchscheint. In einem Blatt wandelt auf einem Weg das Paar aus Albrecht Dürers „Der Bauer und seine Frau“ von 1496/97. Hier manifestiert sich der universelle Anspruch, den Richter in seinem Werk bewahren will: Die alte Zivilisation, alte Kulturen werden im stetigen Werden weitergeführt und bewahrt. Umgekehrt gesehen kann die Natur das Menschenwerk in Form der Kunstzitate, der Architekturruinen, der gestürzten Pilaster und Säulen überwuchern. „Ein Geschlecht geht, und ein Geschlecht kommt; / und die Erde bleibt ewig bestehen.“13.
Wie ein Vermächtnis erfüllt sich das in seiner letzten großformatigen Radierung 1989 „Herbstlicht – für Ingeborg“. Schon stark beeinträchtigt von schwerer Krankheit überäzt Richter die Druckplatte und es kommt dadurch zu einem flauen Abdruck. Als hätte es so sein müssen, wird dadurch der melancholische Gehalt dieser Graphik noch gesteigert. Gewidmet hat es der Künstler seiner Frau. Hineingefügt in ein Motiv des Parkes von Schloss Neschwitz, dessen gesamte Anlage zu den kulturhistorisch bedeutsamen Schlossanlagen der Lausitz zählt, ist Ernst Barlachs „Schlafendes Bauernpaar (Schlafende Vagabunden)“ von 1912, eine Figurengruppe, die für ihn und seine Frau große Bedeutung hatte.
In diesen großformatigen Werken dieses Ausstellungsteils verwirklicht sich der ganze bildkünstlerische Kosmos, den Richter im Verlaufe seines Schaffens herausgebildet hat. In allen diesen Blättern hob er die naturalistische Darstellung der Motive auf eine höhere surreal-symbolische Ebene.
Kapitel 3
„Spreeathen – Stadtlandschaften“14
Immer wieder widmet sich der Künstler der Darstellung seiner Stadt Berlin als Stadtlandschaft. Besonders interessiert ihn dabei die historische Mitte, das kulturelle Zentrum, war doch hier auch sein langjähriger Arbeits- und Wirkungsort am Institut für Kunsterziehung der Humboldt-Universität mit Blick über die Spree auf die Museumsinsel.
Schildert er in den Lithographien und Radierungen aus den Anfangsjahren den Auf- und Wiederaufbau der Stadt fast dramatisch, in einer oft düsteren Stimmung, sind es später markante Bauwerke als historische Zeugnisse, jetzt atmosphärisch detailgenau und in teilweise panoramahaften Raumproportionen. Hinzu kommen Impressionen von Städten, die vor allem im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit bei den Pleinairs und Praktika mit seinen StudentInnen entstehen, wie Hoyerswerda mit den Braunkohletagebauen und Warnemünde mit der Küstenlandschaft, sowie von Reisestationen, wie Leningrad, Moskau, Budapest und Nowgorod. Von vielen dieser Reisen bringt er, Schnappschüssen gleich, solche Impressionen mit, in denen die Stadtsilhouetten immer wieder eine große Rolle spielen: Putbus, Rostock, Wismar, Dresden und Brügge.
Kapitel 4
„Funde am hohen Ufer – Strandläufer und Meerwunder“15
Einsichten und Eindrücke, die Gerenot Richter auf seinen Reisen sammelt, finden immer wieder in unterschiedlicher Weise ihren Niederschlag in seinen Bildern. Neben privaten Reisen sind es die Praktikumsfahrten mit seinen StudentInnen. Zu einer ganzen Bildersuite in Einzelblättern und Folgen zählen die Landschaftsgraphiken von der Ostseeküste, ob nun von der Insel Rügen oder von der Halbinsel Fischland-Darß um das Künstlerdorf Ahrenshoop. Dabei knüpfte er in den Küstenbildern der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, zusammengefasst in der Strandläuferserie, an die heroische Landschaftsdarstellung an. Gezeigt werden diese Graphiken in der kommunalen „Galerie 100“ in Berlin-Lichtenberg.
Die Steilküste mit ihren schroffen Landschaftsformen und generell die Küstenlandschaften erinnern an die kantigen Formen der traditionellen Meeres-, Gebirgs- oder Waldlandschaften. Groß, gewaltig, urtümlich und phantastisch stellt Richter Natur und Landschaft gegen die Menschen, die meist klein als Strandläufer unten in der Tiefe oder in der Ferne zu sehen sind. Er knüpft in diesen Graphiken ganz bewusst an die heroische Landschaftsdarstellung an, wie sie sich ab dem 17. Jahrhundert entwickelt hat. Der Mensch wird zurückgenommen, die Natur dominiert. Nur idealisiert Richter die Landschaft nicht, er schildert sie mit einem detailreichen Realismus und mit fast topographischer Genauigkeit. Selten fügt er antikisierende Elemente ein, wie in „Strandläufer VII“ von 1981 einen Nike-Torso, angelehnt an die „Nike von Samothrake“ aus dem 2. Jahrhundert vor Christus. Die fehlenden Schwingen ersetzen die Flügel einer Möwe, die von der Figur aus zum Flug ansetzt. Der Gleichnis-Charakter der späteren Werke deutet sich in solchen Graphiken schon an. Das Motiv der Strandlandschaft spielt außerhalb dieser Folge in vielen Radierungen Richters eine Rolle.
Kapitel 5
„Terra mater & Herbstlicht – Früh- und Spätwerk“16
Diese Ausstellung spannt einen Bogen vom Früh- bis zum Spätwerk des Künstlers, lässt damit seine bildkünstlerische Entwicklung deutlich werden. Richters realistische Wiedergabe der heimatlichen Landschaft entwickelte sich über einen klassischen und dann durchaus auch romantischen Realismus hin zu einer realistischen, metaphorisch aufgeladenen Landschaftsdarstellung.
Kapitel 6
„Friedliche Landschaften – Die Miniaturen“17
In der kleinsten Galerie der Ausstellungsreihe werden Gerenot Richters Miniaturgraphiken gezeigt. Der Künstler beherrscht in seinen Radierungen nicht nur das relativ große Bildformat, sondern auch das kleine Format, die Miniatur. Dabei kann er durchaus, wie in den großen Formaten, auch in diesen Miniaturbildern ganze Bildgeschichten erzählen oder zum Beispiel Stadtlandschaften darstellen. Fast alle Motive, die er in den großen Formaten abhandelt, sind auch hier zu finden, präzise bis ins Detail. Aber in diesen Miniaturen finden sich auch Einzelmotive, wie der Baum. Damit können diese Kleingraphiken auch wie Studienblätter zu den großen Graphiken anmuten.
Vermutlich wird kaum ein Besucher dieser Ausstellungsreihe alle Ausstellungen besuchen können. Da aber zum jeweiligen Schwerpunktthema weitere Werke gezeigt werden, kann schon der Besuch einzelner Ausstellungen einen Überblick über das Gesamtschaffen vermitteln. Richter offenbart sich darin als Erzähler, als Chronist, als Philosoph und manchmal auch als Metaphysiker. Trotz der Verwendung unterschiedlicher Ausdrucksmittel und Zeiten bilden seine Bilder eine Einheit. Obwohl er in vielen seiner Werke auch im Künstlerisch-Artistischen schwelgt, ist sein Œuvre frei von Stilakrobatik, frei von ideologischem Rationalismus, frei von „avantgardistischem“ Gepränge und auch frei von poetischer Beliebigkeit. Als Naturbeobachter schuf Richter, inspiriert vom Humanismus und einer intellektuellen Künstlerschaft, eine empathische Kunst in Bildern, in denen auch unaufdringlich das Pädagogische eines geistreichen Lehrers mitschwingt. Mit Euphorie und auch Pathos „umarmt“ er das Universum in einer Synthese von Dichtung und Intellekt, in der sich Phantasie und Sachlichkeit durchdringen. Dieser Künstler ist ein Dichter.
Die Ausstellungen:
„Nach dem Sturm – Vom Antlitz der Bäume“, Kirche am Weg/Rad-Wander-Kirche, Blumenower Straße 1, 16775 Gransee-Dannenwalde, 30. April – 5. Juni 2016
„Ging heut’ morgen übers Feld – Hommage und Gleichnis“, Domgalerie, Domplatz 3, 15517 Fürstenwalde, 1. Juli – 28. August 2016
„Spreeathen – Stadtlandschaften“, Humboldt-Universität zu Berlin, Hauptgebäude Lichthof Ostflügel, Unter den Linden 6, 10177 Berlin, 25. Oktober – 16. November 2016
„Funde am hohen Ufer – Strandläufer und Meerwunder“, Galerie 100, Konrad-Wolf-Straße 99, 13055 Berlin, 23. November 2016 – 11. Jänner 2017
„Terra mater & Herbstlicht – Früh- und Spätwerk“, Galerie im Neuen Rathaus, Kunstverein Templin e.V., Prenzlauer Allee 7, 17268 Templin, 21. Jänner – 15. März 2017
„Friedliche Landschaften – Die Miniaturen“, Grafik Studio Galerie, Rigaer Straße 62, 10247 Berlin, 31. März – 28. April 2017
Weitere Informationen: www.gerenotrichter.wordpress.com/
Anmerkungen:
1 Kirche am Weg/Rad-Wander-Kirche, Blumenower Straße 1, 16775 Gransee-Dannenwalde, 30. April – 5. Juni 2016
2 Domgalerie, Domplatz 3, 15517 Fürstenwalde, 1. Juli – 28. August 2016
3 „Melencolia“, „Meerwunder, nach A. Dürer“ von 1977 oder „Frühling mit A.D.“ von 1982, in dem der Dudelsackpfeifer aus einer Graphik von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1514 auftaucht.
4 „Am Bodden – Gerhard Marcks zum 90. Geburtstag“
5 „Vita I – nach Mantegna“, „Vita II – nach Mantegna“, „Vita III – nach Mantegna“ von 1982
6 „Für M.S.“ und „Sommer mit M.S.“ von 1984
7 „Albrecht Altdorfer zum 450. Todestag“
8 „Hommage à Georg Friedrich Kersting – Die Stickerin 1812“ von 1988
9 Das Paar, die Waffelbäckerin und das Kind aus „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ und „Bauernhochzeit“
10 Das Liebespaar aus „Liebendes Paar“
11 Aus „die Stimme des Blutes“
12 Joh. 10, 12: „nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind; (er) sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht“
13 Bibel, Paulus, Pred. 1,4
14 Humboldt-Universität zu Berlin, Hauptgebäude Lichthof Ostflügel, Unter den Linden 6, 10177 Berlin, 25. Oktober – 16. November 2016
15 Galerie 100, Konrad-Wolf-Straße 99, 13055 Berlin, 23. November 2016 – 11. Jänner 2017
16 Galerie im Neuen Rathaus, Kunstverein Templin e.V., Prenzlauer Allee 7, 17268 Templin, 21. Jänner – 15. März 2017
17 Grafik Studio Galerie, Rigaer Straße 62, 10247 Berlin, 31. März – 28. April 2017