Jeremias Altmann, Palimpsest – der Rest

Edition Jugendfrei 18

„Wir gruben einen Schacht“, sagt der Minenarbeiter, dessen Name sich täglich ändert. „Und mit dem ausgehobenen Gestein bauen wir nun eine Brücke“. Er weiß, wovon er spricht, da es schließlich mehrere verschiedene Sedimente waren, durch die er sich da zu graben hatte.

 

Der Wissenschaftler hatte natürlich bereits errechnet, worüber sich der Rest nur wundern konnte: Jede Schicht verändert die Erscheinung jeder anderen. In der Wissenschaft ist der Rest jedoch egal. „Am Boden des Schachtes fanden wir die Gegenüberstellung von menschlichem und kupfernem Gedächtnis.“ Die Ähnlichkeiten können den Wissenschaftler nicht erstaunen, zumal das verwendete Vokabular der Beschreibung schon vor Beginn der Grabungen identisch war. Der Rest wundert sich vielleicht schon wieder, während zeitgleich bereits die ersten Brocken zum Brückenbau angehäuft werden. Die zu überwindende Distanz, welcher die Brücke entgegenwirken soll, mag so manchen Baustatiker das Fürchten lehren. Es soll die gesamte Strecke zwischen Erwachsensein und Kindheit überbrückt werden, die sich oft schon auf den ersten Blick als enorm präsentiert. „Wozu, wird uns nicht verraten“ und solange er brav seinen Dienst verrichtet, wird auch kein Anlass entstehen, zu welchem der Minenarbeiter von der Brisanz des Zweckes seiner Arbeit erfahren muss.

Der Rest teilt sich endlich selbständig in die beiden Kategorien „Konsumenten“ und „Kritiker“ ein, wodurch er seine Handhabung erheblich erleichtert. Das unvernehmliche Raunen unter den Kritikern lässt zwar vermuten, dass sie auf etwas warten, nicht jedoch worauf. Diese Entscheidung werden die Konsumenten treffen, sobald sie die zu bauende Brücke betreten dürfen. Dass es bis dahin jedoch noch eine Weile dauern wird, verrät der Wissenschaftler nur heimlich, um keine Ungeduld zu unterstützen. Seine Vorfreude gilt dem Ergebnis. Der letzten Eskalation und der ersten Wahrheit. Die Kritiker werden zur Brücken-Einweihungsfeier nämlich ihre Sektgläser schwenken, wie sie es immer tun und im Taumel des Festes werden dann auch die Konsumenten vergessen, welche Erkenntnis sie diesmal feiern. Ganz unbemerkt wird sie endgültig sein. Erst Wochen später werden sie begreifen, dass es Wochen zuvor schon zu spät war.

„Die Kindheit wird siegen.“ So schlicht kann sich der Wissenschaftler im Geheimen zusammenfassen. Nur getätigt ohne das Bewusstsein, was eine Äußerung überhaupt bedeutet, ist sie ernst zu nehmen. Nur angefertigt ohne das Wissen, was eine Zeichnung eigentlich ist, wird sie es wert sein, aufgehängt zu werden. Zeichnungen werden überhaupt nur entstehen dürfen, solange es dem Zeichner unwichtig erscheint, ob er sie auf dem Boden, der Tischplatte oder zufällig auf einem Blatt Papier anbringt. Die drei- bis fünfjährigen Künstler werden ihren Produktionsanspruch sofort verlieren, sobald sie verstehen, was sie tun, und damit auch noch einverstanden sein. So weit wird es kommen, ist diese Brücke erst einmal fertig gebaut.

Wir halten Sie auf dem Laufenden.

Jeremias Altmann 2011

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