Linda Berger: Überwucherungen

Edition Jugendfrei 21

Als Linda Berger vor einigen Jahren nach Wien kam, um hier an der Universität für angewandte Kunst in der Abteilung Grafik / Druckgrafik zu studieren, beschäftigte sie sich zuerst mit den Erfahrungen in der ihr fremden Stadt. In schwungvoll gezeichneten Alugrafien hielt sie ihre Eindrücke von der Wiener Architektur fest, in Photoradierungen verarbeitete sie Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen. Über die kleinformatigen Photoradierungen druckte sie im Siebdruck frei assoziierte Strichlagen, in denen sie ihre Empfindungen zu den einzelnen Menschen und Situationen auszudrücken suchte. (vgl. dazu Um:Druck Nr.15, S.9) Diese Methode der nonverbalen, gestischen Kommunikation, des künstlerischen Kommentars zu den Erfahrungen hat Linda Berger nun zu großer Selbständigkeit weiterentwickelt. Bereits in ihrer gemeinsam mit Jeremias Altmann gestalteten großformatigen Kaltnadel-Arbeit „Hybrid“ (vgl. Um:Druck Nr.19, S.4), in der die beiden KünstlerInnen Motive von Amateur-Urlaubsfilmen aus den 1970er Jahren verarbeiteten, gewinnen die kleinen Striche, die sich zu Bündeln und Flächen zusammenschließen, dynamisches Eigenleben.

Anschließend begann Linda Berger, große Papiere mit Strichen, mit der Tuschfeder gezeichnet, zu bedecken, dann sie in Kupferplatten zu ätzen. Dabei verließ sie sich, ganz im tachistischen Sinne, der das künstlerische Tun aus dem Unbewussten anstrebt, auf die Intuition und spontane Emotion ohne jegliche rationale Kontrolle. Beim Strichlieren entstanden graphische Strukturen, aus denen sich, als Rationalisierungen nach dem unbewussten Handeln, landschaftliche Strukturen herauslesen lassen, die stark an surreale Räume erinnern.

Die tachistische Malweise Linda Bergers erinnert zwar in der Form der Striche an skripturale Bilder Drago Prelogs, unterscheidet sich aber von Prelogs Arbeit, weil sie im Gegensatz zu Prelog keinerlei skripturale Absichten hegt. Daher kann sie ihre Strichbündel auch nicht zu streng strukturierten Zeilen zusammenfassen wie Prelog. Dass aber mit graphischen Strukturen Raum geschaffen wird, hat sie von Prelog gelernt, von Giovanni Morandi hat sie gelernt, wie graphische Strukturen den Eindruck der Dreidimensionalität und Gegenständlichkeit erzeugen können.

Der Tachismus hat große Ähnlichkeit mit dem Dripping Jackson Pollocks. So wie Pollock am Ende des Malprozesses in der großen, mit Farbe bedeckten Leinwand erst das Bild, das seinen Ideen und Wünschen entsprach, suchte, fand und ausschnitt, wählte auch Linda Berger aus der 96 x 49 cm großen Kupferplatte den ihr geeignet scheinenden Ausschnitt, der die Balance hält zwischen abstrakt-emotionalem Stricheln und konkret-rationalem Landschaftserlebnis. Der gewählte Ausschnitt eröffnet mit seiner sanften, heiteren, weich-hügeligen Struktur Assoziationen an Landschaften, wie sie die flämischen Meister des 15. Jahrhunderts als Hintergründe ihrer Porträts und Madonnen gemalt haben, und an die romantischen, von Vögeln überflogenen Landschaften des Meisters der Phantastischen Realisten, Anton Lehmden.

Mit Linda Bergers „Überwucherung“ erscheint in der akademisch gewordenen Edition Jugendfrei ein Blatt, in dem sich das studentische Erproben künstlerischer Mittel und das prüfende Durchforsten der Kunstgeschichte zu einem schönen, in sich geschlossenen Blatt verbinden.

Philipp Maurer

Linda Berger, geb. 1980 in Aalen, Deutschland, studierte 2001 bis 2005 Modedesign an der Fachhochschule für Modegestaltung in Pforzheim, arbeitete bis 2008 als Modedesignassistentin und begann 2008 ihr Studium an der Universitat fur angewandte Kunst, Wien, Abteilung Grafik | Druckgrafik, heute Prof. Jan Svenungsson. Ausstellungen im Kunstlerhaus, Renner-Institut, Heiligenkreuzerhof, alle Wien, Wallsee, Schwabisch Gmund,Budapest, Tokyo. Lebt und arbeitet in Wien.

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