Madalina Zaharia: Ohne Titel

Edition Jugendfrei 25

Die Narrative der Symbole und Zeichen

In dem graublauen, nebelhaften Dunst, der über dem Blatt liegt, erkennen wir den Rücken einer vermutlich männlichen Gestalt, die vorwärtsschreitend eine schwere Last, einen gewaltigen Steinquader, trägt. Die Gestalt wirkt aber gar nicht belastet, eher lässig und leicht balanciert sie das Gewicht auf dem rechten Arm. Darüber oder davor erkennen wir einen schwarzen senkrechten Strich, der durch seine Stärke fast an einen Balken erinnert. Daneben, die gedachte Verlängerung des Balkens kreuzend, schwebt ein dünnerer Strich in schräger, raumgreifender Lage.

Es sind zwei unterschiedliche, fast gegensätzliche Bildelemente, die uns die aus Rumänien stammende Madalina Zaharia, die an der Londoner Royal Academy of Art studiert, auf dem Blatt vereinigt präsentiert. Das Bild wurde mit zwei Druckverfahren und unterschiedlichen Farben hergestellt. Das digital bearbeitete Bild des Trägers wurde als Photolithographie mit einer aus Schwarz und Silber gemischten Tinte, die beiden schwarzen, abstrakten Bildelemente sind mit schwarzer Farbe in Siebdruck gedruckt.

Die tragende Figur erinnert mich nicht nur an barocke balkontragende Atlanten, an nationalistische Heldendenkmäler oder an die kämpfende Figuren am Pergamonaltar, insgesamt an all die realistische, heldenverehrende Kunst, sondern auch an die Plakate und Malereien der frühen sozialistischen Kunst und des Sozialistischen Realismus, in denen der „Neue Mensch“ sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und es meistert. Beide Assoziationen erscheinen mir angebracht. Die realistischen, gegenständlichen Kunstelemente werden auf Madalina Zaharias Druck allerdings in den Hintergrund, in die zweite Bildebene verschoben, denn im Vordergrund stehen die beiden Linien, die als typische Beispiele der Abstraktion des 20. Jahrhunderts, wie wir sie von El Lissitzky, Rodtschenko, den russischen Konstruktivisten und den späteren geometrischen und minimalistischen KünstlerInnen kennen, ganz andere Assoziationen und Bildvorstellungen nahelegen. Die Linien lassen uns an Schwerkraft, Dynamik und Harmonie denken.

Die gegensätzlichen Bildelemente, in unterschiedlichen Drucktechniken dargestellt, widerspiegeln das Denken der jungen Künstlerin. Ihr Interesse gilt den Ideen der Menschheit, den unterschiedlichen Narrativen von Geschichte, dem Zusammenhang zwischen Erinnerung und Wahrheit. Und um die künstlerische Frage, wie man die menschlichen Handlungen und die Erinnerungen an sie künstlerisch adäquat darstellen kann, so, dass die Handlungen der Menschen und der Prozess des Erzählens von ihnen erkennbar und nachvollziehbar werden.

Madalina Zaharia, 1985 in Rumänien geboren, nun in London studierend, hat mehrere historische Narrative und deren künstlerische und kunsttheoretische Interpretation erlebt. Aus der Erfahrung von Geschichte, die sie selbst angeht, und den unterschiedlichen Narrativen und Interpretationen der Vorgänge in Rumänien bzw. ganz Osteuropa seit der Wende 1989 führen dazu, dass sich die junge Künstlerin mit Geschichte, Geschichtsphilosophie und Geschichtsinterpretation auseinandersetzt. Die Frage nach Wahrheit in der Geschichte verknüpft sich mit der Frage nach der Bedeutung von Symbolen und nach der besonderen Rolle von Symbolen in der Interpretation und Wahrnehmung von Geschichte. Gibt es eine historische Wahrheit, fragt unser Blatt daher, und wenn ja, wie stellt sich diese Wahrheit dar? Als realistische Figur oder als abstraktes Zeichen? Oder als Kombination von beidem? Oder bleiben die verschiedenen Narrative widersprüchlich und unvereinbar?

Die intellektuelle Frage, für welches Narrativ man sich entscheiden sollte, die zu der von den Psychologie als kognitive Dissonanz bezeichneten Problemlage führt, äußert sich im Kunstwerk als das Miteinander und Übereinader von realistischer und abstrakter Kunst, von Photolithographie und Siebdruck. In Österreich ist diese Dissonanz nachvollziehbar: auch wir kennen zahlreiche historische Narrative über den Februar 1934 von der Nazizeit bis zur Legende vom Wiederaufbau, die einander widersprechen und unvereinbar sind. Und jeder von uns nützt die Interpretation der Geschichte dazu, die eigene Identität zu bestimmen. Im Bild der jungen Künstlerin, die sich nicht zwischen verschiedenen Narrativen entscheiden kann oder will, wird auch unsere eigene Haltung zur Geschichte thematisiert.

Philipp Maurer

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