Multiple matters – Grafische Konzepte

Multiple matters – Grafische Konzepte

Georg Lebzelter über die Wiener Ausstellung „multiple matter“ der Druckgraphik-Triennale Kraków – Oldenburg – Wien im Wiener Künstlerhaus, April, Mai 2010

Was ist Druckgrafik heute, welche Relevanz hat sie im Kontext aktueller medialer und künstlerischer Tendenzen und Fragestellungen? Wohin entwickelt sie sich? Geht sie zusammen mit der viel zitierten Gutenberg-Galaxis ihrem Ende oder zumindest ihrer Marginalisierung als Kunstsparte entgegen oder ist sie in einem Stadium der Transformation und Erweiterung hin zu neuen Möglichkeiten und Aufgabenbereichen, die neue Erscheinungsformen hervorbringen und somit auch das Überdenken tradierter Definitionen nötig machen? Von Georg Lebzelter

Die Quo vadis-Frage lässt sich an die aktuelle Druckgraphik nicht stellen, ohne zunächst kurz in ihre Geschichte zurückzublicken und in Erinnerung zu rufen, woher sie kommt und welchen Stellenwert sie für die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung seit dem 15. Jahrhundert gespielt hat. Mit diesem Rückblick hängt dann auch die Frage nach dem Warum künstlerischer Druckgrafik eng zusammen, mit den Motiven und Konzepten der KünstlerInnen, welche sich druckgrafischer Medien bedienen. Diese Fragen nach dem Woher und Warum könnten ein möglicher Schlüssel zur Einschätzung der aktuellen Situation und zukünftiger Entwicklungen sein.

 

Informationen und Experimente

Das älteste Medium der vervielfältigenden Produktion von Text und Bild, der Holzschnitt, löste zusammen mit der Erfindung des Buchdrucks sowohl eine Medienrevolution als auch eine gewaltige Umwälzung des gesamten Geisteslebens aus, eine tiefgreifende Änderung im Umgang mit Bildern und Texten: Druckgrafik war von Anfang an das Medium zur Verbreitung von Ideen, brach die herrschaftlich säkularen und kirchlichen Bildmonopole, ermöglichte den privaten Zugang zu Informationen und somit neue Formen des Denkens. Sie ließ quasi eine eigene Künstlerspezies entstehen, den „Homo Graphicus“, den Max Melcher, langjähriger Professor an der Kunstakademie in Wien (Um:Druck Nr.12/09, S.14), beschrieb als „Der verkappte Agitator, Augenöffner, Ankläger, Meinungsbildner in der Druckerschürze“1 Der Druck veränderte auch wesentlich die Auffassung darüber, was ein „Bild“ sei: Es wurde „Information“, wie Beat Wyss formuliert „Aufprägung einer geistigen Idee auf die Materie.“2 Das vervielfältigte und veröffentlichte Bild erzeugte ein „Netzwerk der Ideenvermittlung“3 und bestimmt seit über 600 Jahren den kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs.

 

Parallel zu diesem politischen Aspekt, welcher der Druckgrafik seit ihren Anfängen innewohnt, verändert das technische Bild durch die eingesetzten Materialien auch die formalen Möglichkeiten der Gestaltung, wirkt somit als Transformator für die Zeichnung, die Malerei, später die Fotografie und neuerdings das algorithmisch erzeugte Bild aus dem Computer. Gleich welche Methode der Bildgenerierung Ausgangspunkt für die Herstellung eines Druckstocks, einer wie immer gearteten Matrix ist, sie geht eine Beziehung, einen Dialog mit dessen Materialität und technischen Bedingungen ein. Druckgrafiken waren stets „über die verschiedenen Mediensysteme hinweg […] von wesentlicher Relevanz für die Einführung neuer künstlerischer Stilformen und die Veränderung bestehender Formsysteme und -traditionen.“4 Hochdruck, Tiefdruck, Flachdruck, Durchdruck und die digitalen Druckverfahren haben mit ihren jeweils eigenen Prozessen der Bilderzeugung eigenständige, charakteris-tische Ausdrucksformen hervorgebracht, die wie die Techniken selbst in ihrer Geschichte einem steten Wandel unterworfen waren und sind.

 

Als kurzer Einschub scheint eine Abgrenzung für den hier gemeinten Grafikbegriff grundsätzlich wichtig, nämlich die von der Reproduktion, welche natürlich auch eine Aufgabe des Drucks war und ist. Walter Koschatzky, der sich in dieser Frage stets um klare Grenzziehungen bemühte, formulierte dazu: „Grafik ist kein Surrogat, kein Ersatz für etwas, niemals Reproduktion eines ‚originalen‘ (das heißt unikalen) Werkes, sondern ein eigenständiges Kunstwerk, dessen Gestaltung mit Hilfe der grafischen Verfahren nur so und nicht anders entstehen kann. Historisch gesprochen: Mag der Entwicklung grafischer Verfahren auch stets die Absicht zugrunde gelegen haben, durch Wiederholbarkeit an viele Menschen heranzukommen, so hat sich doch die andere Komponente, die Eigenheit der Ausdrucksmöglichkeiten der unterschiedlichen Verfahren mit ihren einzigartigen Eigenschaften, als die wichtigere herausgestellt.“5 Aber, und dies fügt Koschatzky auch gleich als Beitrag zur Qualitätsdiskussion an: „Die Qualität und künstlerische Kraft eines Werkes hat weder mit der Rarität noch mit der artistischen Finesse des ‚Kunststücks‘ etwas zu tun.“5

 

Selbstverständlich gibt es viele weitere Aspekte in Zusammenhang mit den Techniken und Funktionen von künstlerischen Druckerzeugnissen. Doch es erscheint legitim, diese beiden großen Aufgabenstellungen der Druckgrafik – einerseits als Medium der verbreiteten Bildbotschaft, als Multiplikator von Ideen und andererseits als sich permanent wandelndes formales und technisches Transformationsmedium, als Labor der Bildmedien – als die wesentlichen Wurzeln für viele der heutigen grafischen Konzepte und aktuellen Erscheinungsformen im Bereich gedruckter künstlerischer Arbeiten anzusehen.

 

Als Kuratoren der Ausstellung „multiple matters –Grafische Konzepte“, die vom 7. Mai bis 13. Juni 2010 im Künstlerhaus Wien stattfindet, haben Wojciech Krzywobłocki und ich, ausgehend von diesen Überlegungen, den Schwerpunkt auf die Frage nach den Ideen, Absichten und Konzepten der KünstlerInnen gelegt, die sich mit Druckgrafik befassen. Dies lässt sich, wie bereits ausgeführt, nicht von den eingesetzten Verfahren losgelöst betrachten, soll aber den Fokus weg von rein technischen Kategorien, die eher in Fachkreisen zu diskutieren sind, auf die künstlerischen Fragen ausrichten, die Inhalte und Formen aktueller Grafik. Die Fragestellungen in diesem Zusammenhang sind für uns: Gibt es – und was sind – spezifisch „druck/grafische Konzepte“ in der aktuellen Bildkunst? Wie gestaltet sich die Wechselwirkung zwischen eingesetzten Druckmedien und künstlerischen Konzeptionen, zwischen Prozess und Produkt? Was bedeutet diese Auseinandersetzung für die KünstlerInnen, was für die Rezeption von grafischer Kunst heute?

 

Wenn ich schreibe, wir stellen diese Fragen, so ist dies eigentlich nicht korrekt formuliert, denn die Fragen haben sich durch die grafischen Arbeiten uns gestellt, zum einen durch unsere eigene künstlerische Arbeit in diesem Metier, zum anderen und naturgemäß wesentlich vielfältiger durch die im Auswahlprozess für diese Ausstellung gesehenen Werke. Zum Verständnis muss an dieser Stelle das Zustandekommen von „multiple matters –Grafische Konzepte“ und der Kontext, in dem diese Präsentation steht, erläutert werden.

 

Seit 2006 gibt es eine intensive Zusammenarbeit zwischen der Internationalen Grafiktriennale Kraków, dem Horst-Janssen-Museum Oldenburg und dem Künstlerhaus Wien, die bereits 2006/07 Ausdruck fand in mehreren Großausstellungen und Veranstaltungen zum Thema Grafik, 2007 in der Ausstellung „print“ im Künstlerhaus Wien6. Diese Kooperation erweiterte sich 2009 zur Initiative „International Print Network“ und wird durch das Kulturprogramm der Europäischen Union gefördert. Unser langfristiges Ziel ist eine gemeinsame, internationale, zyklische Veranstaltungsreihe, sowie die Schaffung nachhaltiger Strukturen zur Förderung der grafischen Künste in Europa. Dadurch soll eine große Plattform, eine Organisationsstruktur für Veranstaltungen im Bereich der grafischen Künste entstehen, die eine breite Öffentlichkeit über aktuelle Tendenzen informiert und die interdisziplinäre Vernetzung der Grafik mit anderen Kunstformen und Bereichen der Alltagskultur bezweckt. So könnte eine neue Funktion der traditionsreichen, aber natürlich aktuell zu hinterfragenden Form der Grafikbiennalen und -triennalen sein, sowohl ein virtuelles Netzwerk der internationalen Grafik-Community zu knüpfen, als auch reale Orte der Begegnung anzubieten. Sie könnten quasi Generatoren sein, die Menschen und Bilder in der realen Welt wie auch im Internet zusammenbringen, dazu alle Kommunikationsformen mit ihren jeweiligen Möglichkeiten nutzend. Die vielfältigen Aktivitäten in Kraków, Oldenburg und Wien reichen von Ausstellungen über Publikationen, Symposien, Vorträge, Filmprogramme, bis zu künstlerischen Aktionen im öffentlichen Raum. Die Hauptausstellungen in den drei Partnerinstitutionen werden im Wesentlichen aus den Einreichungen zum internationalen Wettbewerb der Triennale Kraków zusammengestellt, durch jeweils eigene Juryteams bzw. durch die KuratorInnen der Ausstellungen in Kraków, Oldenburg und Wien. Dadurch entstanden drei verschiedene Präsentationen mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen, die dem großen Spektrum aktueller grafischer Kunst, das in den Wettbewerbsbeiträgen sichtbar wurde (667 KünstlerInnen aus 64 Ländern hatten sich 2009 beteiligt), unterschiedliche Aspekte entnahmen. In diesem Auswahlprozess manifestierten sich nun für uns die Themen, Fragen und Anliegen, welche die KünstlerInnen in ihrer grafischen Arbeit beschäftigen und umtreiben.

 

Multiplizierbare Argumente

„Bilder sind heute“, schreibt Philipp Maurer „zentrale „Argumente unserer Kultur, Diskussionen über kulturelle Identitäten entzünden sich an Bildern.“7 KünstlerInnen erforschen mit den Mitteln des multiplizierbaren Bildes die Rolle der Bilder in der Bilderwelt der Politik, Kultur und Kommunikation, reflektieren die wachsende Bedeutung der Bild-Kommunikation und sprengen dabei oft die Grenzen zwischen Kunst und Alltagskultur. Sie bedienen sich zum Teil technischer und formaler Mittel und Strategien der omnipräsenten kommerziellen Bilderflut, um diese zu hinterfragen, zu unterlaufen und Gegenkonzepte vorzuschlagen. Diese Konzepte knüpfen an die Tradition der Druckgrafik als politisches Medium der Aufklärung an, nutzen Grafik als Informationsbild, Denkbild, Agitationsbild, Diskussionsbild, vermitteln Weltbilder, häufig mit den Mitteln der Ironie, Verfremdung und Übersteigerung.

 

Ein Künstler, welcher hier exemplarisch hervorzuheben wäre, ist der deutsche Grafiker Klaus Staeck. Er ist seit Anfang der 1970er Jahre durch seine satirische Auseinandersetzung mit der Politik bekannt, war Teilnehmer der documenta 7 und 8, veranstaltete Aktionen zusammen mit Joseph Beuys. Heute umfasst sein Werk ca. 300 Plakate und zahlreiche Fotos, Postkarten und e-cards, die in über 3000 Ausstellungen international präsentiert wurden. 41mal wurde erfolglos versucht, seine Plakate und Postkarten juristisch verbieten zu lassen. Das Künstlerhaus zeigt eine Auswahl seiner Plakate aus den letzten 30 Jahren sowohl in der Ausstellung „multiple matters – Grafische Konzepte“, als auch auf Plakatflächen im öffentlichen Raum.

 

Unterschiedliche Arten, ein Kopftuch zu tragen, zeigt Bettina Patermo in ihrer gleichnamigen Serie von Digitaldrucken. Seit einigen Jahren ist das Kopftuch der Frau Projektionsfläche einer ideologischen Auseinandersetzung. Für die Trägerinnen subjektiver Ausdruck ihrer Religiosität oder schlicht modisches Accessoire, wird dieses Kleidungsstück in unserer zunehmend polarisierten Gesellschaft emotionalisiert und zum Symbol einer kulturellen Auseinandersetzung stilisiert. Dabei entstehende Emotionen wie Ängste, Abwehrhaltungen und Ablehnung führt Patermo dadurch ad absurdum, dass sie selbst als Protagonistin in die unterschiedlichen Rollen in allen seriellen Darstellungen schlüpft, es sich also immer um ein- und dieselbe Kopftuchträgerin handelt.

 

Thema ist in diesem Kontext der Identitätsfragen natürlich auch der menschliche Körper, Bewegung, Körpersprache, die Auseinandersetzung mit traditionellen Disziplinen wie Akt und Porträt, wie mit dem virtuellen Avatar, also dem „grafischen Stellvertreter“, das etwa Hwang Jeong Il aus Korea bearbeitet.

 

Josef Danner, bekannt geworden als „Junger Wilder“, entwickelte seine Arbeit als Maler, Schriftsteller und Grafiker sowie als Gestalter von Plakaten und Installationen im öffentlichen Raum hin zu einer zunehmend konzeptuellen Praxis. Verstärkt nimmt er Text-Elemente in seine aktuelle Arbeit auf. Gesellschaftlich produzierte Mythen und deren mediale Repräsentation in Sprache und Bild sind zum Ausgangspunkt seiner Reflexion geworden. In seiner in der Ausstellung gezeigten Serie „Feuer_Erde“ verbindet er Bild und Sprache in einer quasi „surrealistischen“ Weise. Die „virtuellen Bilder“, die er auf diese Weise zusammenbaut, wurden wieder Ausgangspunkt für Transformationen in der Malerei und Zeichnung oder erweitern das Spektrum der Malerei direkt über den Weg der Druckgrafik.

 

In diesen bzw. einen überschneidenden Themenbereich fällt eine große Gruppe von Arbeiten, die sich mit dem Menschen im Verhältnis zu seinen Umwelten befassen: mit der Natur, mit Innen- und Außenräumen, mit dem Stadtleben, dem „Krieg der Zeichen“, der Vielfalt und Vervielfältigung von Schrift- und Bildzeichen, dem Versuch der Orientierung, der Positionierung und Inszenierung des Einzelnen in der Masse.

 

„Wem gehört die Welt der Bilder und Zeichen?“ fragt Markus Hanzer und geht dieser Frage mit einer interaktiven grafischen Installation nach. Der öffentliche Raum steht in demokratischen Gesellschaften theoretisch allen offen. Dennoch haben in der Realität nicht alle die gleichen Chancen, ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen. Jene, die es sich leisten können, verwandeln Architekturen in Medienfassaden und besetzen jede erdenkbare Fläche – nebenbei auch aktuelles Schicksal der Künstlerhausfassade. Welchen Informationen schenken wir Beachtung, welche werden ignoriert und warum? Hanzers Installation besteht aus Podesten, die mit je einem Begriff gekennzeichnet sind. Die AusstellungsbesucherInnen können die Fotografien von urbanen Zeichen nach ihren Kriterien ordnen, auf den Rückseiten kommentieren und sich so an einer Diskussion über Kommunikation im öffentlichen Raum beteiligen.

 

Forschungslabor des Multiplizierbaren

Die zweite Antwortmöglichkeit auf die Frage nach genuin druckgrafischen Konzepten findet sich in der „Laborsituation“ der Druckgrafik als Experimentierfeld der technischen Bilder: Hierfür charakteristisch sind das Denken und der Realisierungsprozess von Bildern mit Mitteln, die den speziellen Eigenschaften und Möglichkeiten der Druckverfahren entspringen oder sich zumindest stark darauf beziehen. Es sind dies die formalen Konzepte des Multiplizierbaren, der Wiederholung und der Variation, der Möglichkeiten des Seriellen, der Metamorphose. Den Prozessen der druckgrafischen Gestaltungstechniken eignet eine ganz spezifische Kapazität zur Speicherung visueller Information. Denn anders als die Zeichnung und Malerei verfügt die druckgrafische Matrix über ein „Formengedächtnis“. Dieses erlaubt es, einmal getroffene gestalterische Entscheidungen nicht nur zu vervielfältigen, sondern auch zu speichern, das einmal erstellte Bild neu zu bearbeiten, es wieder aufzunehmen, zu revidieren, zu modifizieren. Gleichzeitig steht die Materialität der Matrix einer beliebigen Veränderung entgegen, im fortschreitenden Prozess ist die Substanz des zurückgelegten Weges dokumentiert. Frieder Nake beschreibt in seinem Symposiumsbeitrag „Druckstock und Pixelmatrix“ das, was uns als Technik gegenübertritt, pointiert als „konservierte, tote Arbeit, Arbeit im zombifizierten Zustand.“8

 

Die Frage nach Wirkungsweisen und Weiterentwicklung der Drucktechniken, nach der technischen Innovation, führt heute zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der digitalen (Druck-)Medien. Tut sich hier ein unüberwindlicher Bruch zwischen alten und neuen Medien auf? Einen „Druckstock“ als zu bearbeitendes Material gibt es im Digitaldruck nicht mehr. Werden somit alte Begriffsbestimmungen von „Originalgrafik“ obsolet und wird dadurch die ganze Definition einer Ausstellung wie dieser über ein Mediensystem – die Druckgrafik – hinfällig, wenn dieses Mediensystem selbst sich so grundlegend verändert?

 

Dies mag so erscheinen, es lässt sich aber auch ganz anders, nämlich in der Kontinuität des Wandels in der Geschichte der Druckgrafik betrachten. So lassen sich alle druckgrafischen Medien, vom Holzschnitt bis zum Digitaldruck, auf ein einfaches Grundprinzip zurückführen: sie nutzen die Differenz zweier Werte zur Hervorbringung ihrer Produkte, zwischen marked und unmarked space. Bei Hoch- und Tiefdruck ist dies ein Relief, eine Differenz zwischen vertieften und erhabenen Stellen, beim Flachdruck eine chemische Trennung in fettannehmende und fettabstoßende Bereiche des Druckstocks, beim Siebdruck die Unterscheidung zwischen durchlässigem und nicht durchlässigem Bereich der Schablone. Der Computer als jüngstes Medium zur Bilderzeugung funktioniert nun nach dem genau gleichen Prinzip der binären Codierung, hier wird die Unterscheidung „Strom fließt“ oder „Strom fließt nicht“ zur Definition des Bildes angewandt. Für die Verbreitung solcherart errechneter Bilder stehen gänzlich neue, mit nichts aus der Geschichte der vervielfältigbaren Bilder vergleichbare Distributionswege offen, weil sich die dem Pixeluniversum entstammenden Bilder nicht mehr zwangsläufig materialisieren müssen. Wenn die digitale Grafik aber als Repräsentationsform „Ausdruck“ auf Papier oder anderen Bedruckstoffen erscheint, dann steht sie, wie Jürgen Weichardt ausführt, „den formal und ideell überlieferten Strukturformen der bildenden Kunst sehr nahe.“9 Und so konstatierte Richard Noyce bereits 2007 in seinem Text „Grenzen in Bewegung“ zur Ausstellung „print“: „Traditionell und digital, früher als zwei sich gegenüberliegend Pole betrachtet, sind heute bloß zwei unterschiedliche Aspekte in der facettenreichen Welt der Druckgrafik, in der die vielfältigen Zugänge und die unterschiedlichen Techniken weiterhin einen der faszinierendsten, sich fortwährend weiterentwickelnden Ansatz darstellen, Kunst zu schaffen. Darum geht es im Wesentlichen und darum soll es gehen.“10

 

Im „Laboratorium Druckgrafik“ wird also sowohl mit alten, als auch ganz jungen Medien, als auch Mischformen unterschiedlicher Druckmedien erfunden, erforscht, analysiert, transformiert, variiert, reflektiert, experimentiert. Ideal lassen sich Druckprozesse einsetzen, um verschiedene Zustände und Aspekte einer Sache aufzuzeigen, „Bildmöglichkeiten“ gleichwertig nebeneinanderzustellen, das prozessuale Voranschreiten sichtbar erscheinen zu lassen und damit für die BetrachterInnen nachvollziehbar zu machen.

 

Das Statement, das der deutsche Maler und Grafiker Markus Lörwald, in der Ausstellung vertreten mit seiner Radierserie „Traum und Lüge“ zu seinem Verständnis von Druckgrafik gibt, illustriert diesen Aspekt ganz klar: „Durch die starke Reduzierung der darstellerischen Mittel in der Druckgrafik, im Extremfall auf ein schlichtes Schwarz und Weiß, tritt die Essenz einer Bildidee in den Vordergrund. Ähnlich wie bei einem Rocksong, der nicht mit einer ganzen Band eingespielt wird, sondern ‚unplugged‘ nur mit einer Akustikgitarre. Sofort wird klar, ob der Song sich auch alleine trägt oder nicht. So ähnlich ist es mit der Druckgrafik und einer Idee, die vielleicht auf einem auf Leinwand realisierten Bild beruht. Durch die Möglichkeit, farblich unterschiedliche Zustandsdrucke abzuziehen, zusätzliche Platten anzufertigen oder auf Platten – welche im ursprünglichen Konzept vorgesehen waren – zu verzichten, nimmt das Motiv den Künstler mit auf eine Reise, bei welcher der Ausgang völlig offen ist. Man erzielt Ergebnisse, die weder beabsichtigt noch vorhersehbar waren, aber ein unvorstellbares Glück für die eigene Kunst bedeuten. Die Druckgrafik ist somit ein Korrektiv und auch ein Katalysator für meine eigene Arbeit und ohne die regelmäßige Arbeit in der Druckgrafik würde meine Malerei heute mit absoluter Sicherheit anders aussehen.“11

 

Der Koreaner Chang Soo Kim (s. Um:Druck 5/07, S.17 und 18), in zahlreichen Grafikausstellungen rund um den Globus vertreten und vielfach mit Preisen ausgezeichnet, befasst sich mit den sichtbar gemachten und als Gestaltungselement verwendeten Bausteinen des digitalen Bildes. In seiner Serie „being scattered“ löst er die Fotos urbaner Straßenszenen in einem technischen Flimmern („flickering“) auf: Bildstörung?

 

Anne Heyvaert, in den USA geborene Französin, jetzt in Spanien zuhause, reflektiert in ihren Serien „Map flower“ und „Unfolding map“ (Lithographie auf digital print) Charakteristika druckgrafischer Prozesse: Über Landkartenbilder, ge- und entfaltet, führt sie zu geheimen Orten der Erinnerung, denen die grafische Entstehungsgeschichte eingraviert ist. Von Stadium zu Stadium entfaltet sich das Bild wie die Landkarte, Bezugspunkte bleiben im Veränderten bestehen, Wiederholung und Permutation wechseln. Die digitalen und analogen Zeichenwerkzeuge greifen ineinander und bringen gemeinsam neue Formen, eine neue Raumillusion hervor.

 

Charakteristisch für grafisch konzipierende Künstler-Innen scheint das „indirect thinking“ zu sein, wie es Dorota Folga-Januszewska formuliert: „This graphical ‚stage thinking‘ or ‚invisible plate thinking‘ is very helpful here, being a strategy, a method of passing the next threshold. At the beginning of 21st century printmaking is not only a field of creation; it’s rather an artistic evolutional system which can teach us how to adapt to the changing world.“12

 

Wir sehen also in diesem Blick auf die aktuelle internationale Druckgrafik, dass sie eine Fülle von hoch-aktuellen inhaltlichen, formalen und technischen Fragen der Kunst und der visuellen Kultur behandelt. Wir erkennen in diesen Arbeiten Konzepte, die traditionelle druckgrafische Aufgabenfelder neu und mit neuen Formen und Mitteln bearbeiten. Wir stellen fest, dass die künstlerische Druckgrafik aus ihrem Wesen und ihrer Geschichte heraus einen wesentlichen Beitrag zur aktuellen Mediendiskussion leisten kann, ja, dass sie mitten darin steht, dass sie zu einem Treffpunkt vielfältiger medialer Strömungen geworden ist: Auf dem Feld der Grafik treffen einander heute so unterschiedliche Medien der Bildgenerierung wie Zeichnung, Fotografie, Collage, Malerei, Schrift, Video und vieles mehr. Druckstock und Pixelmatrix synthetisieren diese Ausgangsmedien, verbinden sie alle zu Neuem. So definieren wir künstlerische Druckgrafik heute als das multiplizierbare Original, als das in und mit den druckgrafischen Mitteln gedachte und umgesetzte bildnerische Konzept.

 

Anmerkungen:

1 Max Melcher: Denk ich so. In Claus Pack: Maximilian Melcher, Graphik. Wien 1982

2 Beat Wyss: Mystik und Druckerpresse. In: Die Welt als T-shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien. DuMont, Köln 1997

3 ebenda

4 Hans Dieter Huber: Kommunikation in Abwesenheit. Zur Mediengeschichte der künstlerischen Bildmedien. In: Vom Holzschnitt zum Internet – Die Kunst und die Geschichte der Bildmedien von 1450 bis heute“, Cantz Verlag, Ostfildern 1997

5 Holeczek, Koschatzky, Weber: Das Phänomen Grafik, Re-sidenz Verlag, Salzburg 1996

6 print – Internationale Grafiktriennale Krakau – Oldenburg – Wien 5.9.-12.10.2007, Ausstellungskatalog print, Wien 2007, ISBN 3-900354-05-7

7 Philipp Maurer: From A Matrix – Aktuelle Positionen österreichischer Grafik. In: Katalog der Mestna galerija Ljub-ljana 2009, Nachdruck unter dem Titel: Aktuelle Druckgraphik – eine Zumutung, in: Um:Druck 13/2010

8 Frieder Nake: Druckstock und Pixelmatrix. Von der Ma-schinisierung des Gedächtnisses. Beitrag zum Symposium „Matrix“, Künstlerhaus, Wien 2010

9 Jürgen Weichardt: Grafik öffnet Innen- und Außenwelt. In: Grafik ohne Grenzen (Ausstellungskatalog), Horst-Janssen-Museum, Oldenburg 2010

10 Richard Noyce: Grenzen in Bewegung. In: print – Internationale Grafiktriennale (Anm.6)

11 Markus Lörwald in: multiple matters – Grafische Kon-zepte (Ausstellungskatalog), Wien 2010

12 Dorota Folga-Januszewska: Homo Graphicus. In: The 7th Triennial of the Polish Graphics Katowice 2009 (Ausstellungskatalog)

 

Georg Lebzelter, Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien, Prof. Max Melcher, und an der Universidad Complutense Madrid; Ausstellungen in Österreich, Ägypten, Bulgarien, Korea, Polen, Slowenien, Spanien und Ungarn; Mitglied des Wiener Künstlerhauses, Lehrbeauftragter an der „Graphischen“, Wien, Ausstellungskurator, freischaffender Künstler (s. Artikel von Sergius Kodera, S.19 dieser Nummer)

 

Die Ausstellung „multiple matters – Grafische Konzepte“ (kuratiert von Wojciech Krzywobłocki und Georg Lebzelter), die Wiener Variante des „International Print Network (früher: Druckgraphik-Triennale) Kraków – Oldenburg – Wien“ war vom 7. Mai bis 13. Juni 2010 im Wiener Künstlerhaus zu sehen.

 

Aus: Um:Druck – Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur. Nummer 14, April 2010, S.1ff

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